Leseprobe "Jenseits von Bochum"
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- Veröffentlicht: Sonntag, 14. Januar 2018 22:44
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Die folgende Leseprobe darf gerne weitergegeben werden! Sie beinhaltet die ersten vier Kapitel des aktuellen Romans "Jenseits von Bochum".
– Prolog: Rodiar –
„Es ist aus.“
Rodiar sah Leress in die Augen. „Du meinst das ernst, nicht wahr?“
Die Rashan blickte zurück. Eiskalt. „Ja. Vergiss es einfach. Es ist seit mehreren Tagen aus. Kapier es endlich.“
Rodiar blickte zu Boden. Er hatte wirklich keine Mühen gescheut, den Braten auf dem Stein festlich anzurichten. Auf ihrer Lichtung. Der Lichtung, auf der er sie das erste Mal geküsst hatte.
Er starrte sie an. Ihr hellblondes Fell, die kurzen Arme, die er so mochte, ein Stück kürzer noch als seine, der lange, buschige Schwanz mit den drei Strähnen, der sich noch neulich um seine Beine geschmiegt hatte ... das alles sollte vorbei sein?
Acht Blumenkränze hatte er geflochten, einfache Illusionsmagie hineingewoben, damit sie leuchteten. Perfekt. Mehrere Stunden Arbeit steckten an diesem Ort.
Und er hatte immer noch nicht verstanden, warum Leress ihn nun so ansah, als habe sie nie etwas für ihn empfunden. Ein Freund hatte ihm einmal gesagt, dass der schlimmste Anblick eine Frau sei, die für ihren ehemaligen Partner nur noch Mitleid empfand.
Doch er sah nicht einmal Mitleid in ihren Augen. Er wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.
Er hatte nichts Falsches gesagt. Oder wenn, dann hielt sie ihm das nicht vor. Er hatte sie nicht enttäuscht, sie nicht betrogen, er hatte auch nicht den Eindruck gewonnen, dass sie ihn langweilig fand. Sie hatten sich auch nicht auseinandergelebt.
Und selbst, wenn sie einfach nur erkannt hatte, dass sie ihn nicht liebte, war das kein Grund für diese Blicke.
Er wollte es nicht wahrhaben. Im selben Moment verstand er aber, dass er es nur nicht wahrhaben wollte, dass es dennoch umso wahrer war.
„Habe ich was falsch gemacht?“
„Du hast wohl so ungefähr alles falsch gemacht, was man falsch machen kann.“ Jedes Wort versetzte ihm einen Nadelstich.
„Wieso sagst du sowas? Habe ich nicht immer ...“
„Habe ich nicht immer!“, äffte sie ihn nach „Habe ich nicht immer! Habe ich nicht immer versucht, so zu tun, als sei ich dir wichtig. Habe ich nicht immer so getan, als wolle ich dir helfen. Habe ich nicht immer. Du bist ein Weichling.“
Er versuchte, einen Sinn in ihren Worten zu finden, aber er fand keinen.
Doch, es gab einen. Der einzige Sinn war, ihn zu kränken. Leress wollte ihn beleidigen. Sie wollte, dass er sich schlecht fühlte.
Und verdammt, das klappte viel zu gut.
„Warum bist du dann überhaupt gekommen?“, fragte er. „Das zumindest kannst du mir doch sagen, oder? Warum kommst du auf meine Einladung überhaupt hierher, wenn du mir nur schlimme Dinge sagen willst?“
„Weil ich dir diese Dinge eben sagen will. Weil ich sehen will, wie du, der mir diese Zeit gestohlen hat, am Boden vor mir kriechst.“
Er starrte sie an. „Wie bitte?“
„Die Zeit mit dir war die reinste Verschwendung. Sie bringt niemanden weiter. Du bist ein Idiot, Rodiar. Du bist der dümmste Rashan, der im gesamten Wald lebt.“
Ihm blieb der Mund offen stehen.
„Ich habe noch nie so einen Idioten wie dich getroffen. Das wollte ich dir sagen. Dann wollte ich über deinen Gesichtsausdruck lachen. Und dann von dannen gehen und mich nicht umdrehen.“
Sie lachte und ging und drehte sich nicht um.
Rodiar fasste es nicht. Es war ganze vier Tage her, dass sie aus heiterem Himmel beschlossen hatte, sich von ihm zu trennen.
Trennungen kamen natürlich vor, auch unter den Rashan. Aber normalerweise waren sie nicht so hart. Jedenfalls redete er sich das ein.
Vielleicht liebte sie ihn immer noch und musste ihm das ins Gesicht sagen, damit sie sich wirklich von ihm trennen konnte.
Er schluckte. Nein, das war eine falsche Hoffnung. Rodiar war sich sicher, dass er kein Idiot war. Er war nicht der dümmste Rashan. Er war ... ein schlauer Rashan. Genau.
Und schlaue Rashan blickten hoffnungsvoll in die Zukunft.
Genau. Hoffnungsvoll. Er reckte seine lange Nase nach oben, der verschwommenen Sonne entgegen.
Hoffnungsvoll, großmütig, flink und ... wie ein Rashan eben. Er würde seine Würde bewahren. Er hatte es nicht nötig, sich so behandeln zu lassen. Er würde eine andere tolle Rashan finden und mit der dann ...
Er trat den ersten Blumenkranz beiseite. Er flog gegen einen Baum und zerstob in einzelne Blütenblätter, Zweige und Funken von Zauberei.
Das half nicht.
Er lief trotzdem erst in den Wald, nachdem auf der gesamten Lichtung alle acht Blumenkränze zertreten und zertrampelt herumlagen.
Er hasste diesen Ort.
– Paddy –
„Damit kommen Sie zu mir? Nach einem Monat? Vier Bewerbungen?“
Frau Glasmacher starrte Paddy an. Hinter ihrer dicken Brille verbargen sich zwei funkelnde Augen voll purer Bösartigkeit.
Paddy hatte keine Ahnung, wie alt die Frau vor ihm war. Dem Gesicht nach vielleicht nicht einmal dreißig, sie gab sich aber wie fünfzig oder älter. Er hasste dieses Weibsbild.
Blöderweise war Frau Glasmacher diejenige, die beim Jobcenter seinen Hartz IV-Bescheid bearbeitete. Ja, in Wirklichkeit hieß es Arbeitslosengeld II, aber das machte es nicht besser. Und wenn sie wollte, konnte sie ihm mal eben, einfach so, die Gelder streichen. Sie musste dafür nur nachweisen, dass er sich nicht bemühte, einen Job zu finden – und dazu hatte sie gerade einige Begründungen in der Hand.
Und darum musste er nun lächeln. Obwohl er der Frau am liebsten ins Gesicht gesprungen wäre.
„Mehr passende Stellen ... hab ich nicht gefunden.“
„Ich hatte Ihnen achtzehn – achtzehn! – Stellenanzeigen mitgegeben.“
„Ich habe zuhause recherchiert. Davon waren vierzehn schon vergeben. Ich habe mich auf den Homepages der Firmen ...“
„So. Dann sagen Sie mir mal, welche Firmen das waren!“
Er schluckte. Verdammt. Dieses Weibsbild ...
Er kramte in seinen Unterlagen herum. Da, die Liste. Verdammt ... wie war das noch gewesen?
„Broding KG. Die Stelle war besetzt.“
„Soso. Und wieso haben Sie sich dann auf genau die beworben?“
Verdammt. Da hatte er gerade die Falsche rausgesucht. Die Bewerbungen hatte er halb zugedröhnt geschrieben. Mike war gestern noch vorbeigekommen. Der war gerade in Holland gewesen und hatte Haschisch dabei. Nicht den Schrott, den man hier auf der Straße bekam, echtes, gutes Agadir, fein und gut wegdröhnend.
Und dann hatte er die Bewerbungen geschrieben. Und verdammt. Die eine war an die Broding KG gewesen. Ja. Stimmte. Er hatte erst später gemerkt, dass die Stelle schon lange besetzt war – auf der Website wurde sie gar nicht mehr aufgeführt. Verdammt. Da war er direkt drauf reingefallen.
„Äh, da habe ich wohl was verwechselt. Ich meine hier, bei dem Uros-Versand ...“
Da hatte er sich nun wirklich nicht bewerben wollen. Outbound-Callcenter. Das war echt der letzte Job.
„Ah ja.“ Die Frau tippte. Selbst, wie sie tippte, klang widerlich. Wenn er tippte, war das ehrlich und elegant. Diese Frau ließ ihre Fingernägel auf die Tastatur klickern. Klicker klicker. Das klang schon so ... so ... amtsdeutsch. Genau. Amtsdeutsch.
„Komisch. Uros-Versand, hier.“ Sie drehte ihren Monitor zu ihm hin. Ihr Gesichtsausdruck zeigte ein süffisantes Lächeln. Verdammt. Das Lächeln, das Frau Glasmacher aufsetzte, wenn sie ihm richtig einen reinwürgen konnte.
Paddy war sicher, dass die Frau das genoss.
„Die Stellen sind noch frei. Und ich sage Stellen. Hier steht, dass mindestens drei Mitarbeiter gesucht werden.“
„Vielleicht haben sie einen gefeuert letzten Monat ...“
„Schauen Sie mal da: Letzte Änderung. Vor sechs Wochen.“
Sie holte Luft. Konnte man sich geistig die Ohren zuhalten? Die Schrapnelle holte zu einer Tirade aus. Instinktiv schloss er die Augen. Er wollte sich nur ganz kurz vorstellen, er sei auf einem Festival. Faster. Harder. Louder. Louder würde es gleich werden. Und Harder sicher auch.
„Sie haben nicht nur die Dreistigkeit, in einer Woche ganze vier Bewerbungen zu schreiben, und den Rest der Zeit auf den Kosten aller Steuerzahler zu leben, sie haben auch die Dreistigkeit, mich hier zu belügen!“
Oha. Die Lautstärke war ... bestimmt 3 Dezibel leiser als letztes Mal. Entweder kam die Frau langsam in Übung und wusste, dass sie noch viele Jahre durchhalten musste, oder sie hatte keine Stimme mehr.
Aber die Tirade war ein schlechter Ersatz für einen Barney Greenway, der einem ein „You Suffer“ um die Ohren haute.
Sie lehnte sich zurück. „Nun, Herr Seidel? Was sagen Sie?“
Er rang kurz mit sich. „Es tut mir leid.“
„Wie bitte?“
„Es tut mir leid. Frau Glasmacher. Ja, es tut mir leid. Ich habe nur vier von den Stellen angeschrieben.“
„Ich habe an dieses Callcenter schon achtzehn Leute vermittelt. Einige davon hatten nicht einmal irgendeine Ausbildung.“
„Ja.“
„Und Sie haben einen Studienabschluss.“
„Einen, mit dem man nichts anfangen kann.“
„Aber dort könnten Sie arbeiten. Sie würden nicht mehr dem Staat – und damit uns – auf der Tasche liegen, sondern würden ihr eigenes Geld verdienen! Nicht mehr Geld von mir und jedem anderen Bürger bekommen, der arbeitet!“
Oh, das war neu. Beim letzten Mal hatte die Frau noch versucht, Verständnis zu heucheln. So sozialarbeitermäßig. Das hatte ihr gar nicht gestanden, das hier schien ihr wahres Gesicht zu sein.
Und er würde wirklich gerne arbeiten. Aber nicht im Callcenter. Outbound. Leute anrufen, die nicht angerufen werden wollten. Das kam gar nicht in Frage.
Sie drehte den Monitor wieder zu sich um. Klick, klick, Maus, Maus. Vermutlich rief sie gerade die Verbrecherkartei auf und meldete ihn schon mal im Knast an. Sie verzog das Gesicht und sagte gar nichts.
Sie blickte sich nach hinten um. Vermutlich suchte sie den Alarmknopf, um ihn abführen zu lassen.
Die Frau trug einen Dutt.
Das fiel ihm gerade zum ersten Mal auf.
Es war das 21. Jahrhundert und diese Frau trug einen Dutt.
Nicht so einen modernen oder gezwirbelten Dutt. Nein, einen so richtig altmodischen, runden, mit Stecknadeln drin. Oder Stricknadeln, was auch immer das war. Wahnsinn.
Aber nein, das durfte er nicht sagen. Nein. Bloß nicht. Die hatte bestimmt einen Hausdrachen zu Hause, der ihr zeigte, wo der Hammer ...
Nein, er wollte sich nicht vorstellen, dass diese Frau ein Privatleben hatte. Oder gar ein Sexualleben.
„Nun denn, Herr Seidel. Sie bringen mir bis morgen drei weitere Bewerbungsschreiben. Ich verbuche die hier und schicke die ab. Auf Kosten des Steuerzahlers, Herr Seidel. Und dann sorge ich dafür, dass Sie wieder Geld kriegen.“
„Aber heute ist der Erste! Ich meine ...“
Sie starrte ihn an. „Das ist Ihr Problem. Ihre Miete zahlen wir, Ihre Versicherung zahlen wir, und dann müssen Sie halt zusehen, wie Sie bis morgen über die Runden kommen. Wie viele Mahnungen haben Sie ignoriert, Herr Seidel?“
„Ich bin nicht sicher ... acht?“
Klacker, klacker. Für Sekunden hielt die Frau die Klappe, dann ging es weiter.
„Es waren mehr als zehn. Der Computer zeigt mir immer nur zehn an, und es geht unten noch weiter!“ Paddy widerstand dem Drang, sich die Ohren zuzuhalten.
„Ich meine ...“
„Morgen, Herr Seidel. Oder ... vielleicht schaffen Sie es ja, mir in einer halben Stunde die drei Bewerbungen zu bringen? Dann noch heute, Herr Seidel!“
Auf der Zunge lag ihm ein „Fuck you!“ – wie von Overkill, wenn sie Subhuman coverten. Blöde Kuh. Sie wusste genau, dass er in einer halben Stunde gerade mal zuhause sein konnte.
Er schloss die Augen. „Arschloch“ sagen half auch nicht. Dann würde es länger dauern, er würde eine neue Sachbearbeiterin bekommen.
Sachbearbeiterin. Persönliche Ansprechpartnerin. Was auch immer. Der Titel machte es nicht besser, und schon gar nicht diese Frau.
„Bis morgen.“
„Auf Wiedersehen, Herr Seidel.“
Er nickte grußlos und stand auf. Einatmen, Ausatmen. Tür auf. Tür leise schließen. Nein. Die Genugtuung, dass er die Tür knallte, würde er ihr nicht geben. Die hatte die blöde Kuh nicht verdient.
Draußen angekommen atmete er noch einmal tief durch. Egal. Frischluft.
Er konnte die Bewerbungen heute Abend schreiben. Die mussten ja nicht so richtig gut sein. Nicht wirklich ... seinem intellektuellen Stand entsprechend. Klar, nicht nur dahingerotzt, aber ... na ja. Er würde das schon hinkriegen.
Zeitplan für den Abend. Nach Hause laufen, zwanzig Minuten. Schreiben zwanzig Minuten, ausdrucken, eintüten.
Eine Stunde etwa. Er würde sich die drei Firmen aus der Liste der verbleibenden raussuchen, die ein ähnliches Profil hatten, dann brauchte er nicht so viel zu verändern.
Zwei Dosen Bauerneintopf hatte er noch. Nein, sicher noch drei. Verhungern würde er nicht. Das Konto war leer. Barschaft. Er zog sein Portemonnaie aus der Tasche.
Vier Euro dreißig. Oha. Nun gut. Ein großes Bier in einer Kneipe, oder ein Sixpack Billigbier im Laden. Nun ja. Sixpack, und noch zwei Dosen. Er rechnete. Wenn er eine der Dosen jetzt direkt trank und das Pfand zurückbrachte, reichte es sogar noch für drei Dosen. Er hatte auch noch Pfand zuhause, aber das musste er erst wegbringen.
„Entschuldigung?“
Er drehte sich um. Wer redete da mit ihm?
Eine Frau. Wow. Und was für eine.
Lange Beine, ordentliche ... und ein hübsches, rotes Oberteil. Vielleicht war der kürzere Jeansrock ein wenig kalt für die Jahreszeit, aber sie schien nicht zu frieren. Leicht vorstehende Nase, aber nicht wirklich hässlich, eher neugierig machend. Interessant.
Nun ja, die wollte ja sicher eh nichts von ihm. Ein Mann dunklen, langen Haaren, Jeans, Metal-Shirt und Lederjacke. Leicht angerissene Lederjacke ...
„Wissen Sie, wo man hier was zu Essen herbekommt?“
Er starrte sie an, als hätte sie sie nicht alle. „Wie ... wie meinen Sie das?“
„Ich suche einen Ort, an dem ich essen kann.“ Sie lächelte. „Kennen Sie da einen?“
„Äh, ja. Da vorne, da sind diverse Restaurants, die ganze Innenstadt ist voll damit.“
„Ah ja. Können Sie mir eines dieser ... Restaurants ... auch empfehlen?“
Nein, konnte er nicht. Er war seit Jahren in keinem gewesen. Er war früher gerne im Grunewald oder im Le Clochard gewesen, aber das konnte er sich seit geraumer Zeit auch nicht mehr leisten, auch wenn das nicht die teuersten Läden waren. Außerdem lagen die weiter außerhalb und waren umgezogen, er hatte keine Ahnung, wo die nun waren. Oder im Vier Winde, als er mal seiner Leidenschaft für Rollenspiele nachgegangen war. Ein paarmal hatte er sich sogar als Vampir verkleidet, aber auch dafür reichte seine Barschaft schon länger nicht mehr.
Aber natürlich konnte er die Frau nicht einfach stehenlassen. Auch, wenn er die Restaurants in der Innenstadt nicht kannte, er wohnte schließlich hier. „Oh, ja, natürlich! Brauchen Sie eine bestimmte Richtung?“
„Richtung?“ Die Frau runzelte die Stirn.
Oh. „Äh ... ich meine ... gutbürgerlich? Chinesisch? Italiener? Döner ... nein, Sie wollen keinen Döner ...“
„Doch, Döner. Döner klingt gut.“
„Ah. Gut, ja, da kenne ich wirklich einen Laden. Da hinten, gleich um die Ecke ...“ Ja, die Dönerbude kannte er in der Tat. Nur speicherte er die normalerweise nicht unter „Restaurant“ ab. Und sein Geld reichte nicht für Bier und für Döner.
„Das freut mich.“ Sie lächelte ihn an. „Zeigen Sie mir diesen Laden?“
„Äh. Ja. Natürlich. Gerne. Ich habe eh nichts Besseres vor.“ Nichts Besseres, als einer Frau eine Dönerbude zu zeigen, die dem Aussehen nach vermutlich ... ja. Schwer einzuordnen war.
Er ging voran. Die Dönerbude war nicht weit, um zwei Ecken, dann waren sie da. „Hier. Die ist ordentlich.“
„Danke sehr. Möchten Sie auch essen?“
„Oh, ich habe noch genug zu Hause ... und ...“ Er schluckte. Das wollte er nicht so direkt sagen, aber irgendwie musste er das. „Na ja. Mein Geld reicht nicht.“
„Oh, das ist kein Problem. Ich habe Geld. Bitte, kommen Sie doch mit!“
Was passierte hier? Eine wildfremde Frau lud ihn zum Essen ein? Zu Döner?
Andererseits war der Döner hier wirklich gut, und die Frau sah wirklich gut aus. Wie alt war die wohl? Schätzungsweise auch noch keine 30 Jahre. Eher noch ein paar Jahre jünger als er. Und blond.
Die Dönerbude hatte drinnen drei hohe Tische mit unbequemen Thekenstühlen stehen. Man konnte da sitzen, aber gut war das nicht. Er fragte sich einen Moment, ob er einfach eine andere Lokalität vorschlagen sollte, aber die Frau schien sich nicht daran zu stören. Ihr Rock rutschte beim Hinsetzen ein ganzes Stück hoch. Verdammt. Musste er sie darauf aufmerksam machen?
Sie blickte ihn an und nickte. „Was essen wir also nun?“
„Äh. Döner.“ Er schluckte. „Ich bin Patrick. Aber meine Freunde nennen mich Paddy.“ Er hoffte, dass er nicht mit den üblichen Nachfragen nach Paddy Goes to Holyhead konfrontiert wurde.
„Roxette.“
„Echt jetzt?“ Die hieß wirklich so?
„Wie?“
„Sie ... Du heißt wirklich Roxette?“ Er mochte es nicht, Leute beim Vornamen zu nennen und zu siezen. Eigentlich mochte er das Siezen eh gar nicht.
„Ja, ich heiße Roxette. Ist der Name nicht gut?“
„Doch, doch. Schon ok.“ Er war nun wirklich kein Fan dieser Musik, aber das machte ja nichts.
Roxette blickte ihn erwartungsvoll an. „Wie ... bekommt man hier essen?“
Er grinste. Sie wollte sich wohl bedienen lassen. „Kein Problem. Ich besorg uns zwei große Dönerteller. Willst du auch was trinken? Ach ja, und ich hab wirklich kein Geld.“
„Kein Problem. Ich will auch was trinken, ja.“
„Was denn?“
Roxette zögerte. „Weißt du, ich verlass mich da einfach auf Dich ...“
Das war merkwürdig. Aber nicht so merkwürdig, dass es ihn beeindrucken würde, beschloss er. Er holte einfach zwei Bier aus dem Kühlschrank und bestellte zwei Dönerteller.
Bier. Bier für eine toll aussehende Frau, die Roxette hieß und ihn einlud.
Was passierte da gerade in seinem Leben?
Er stellte ihr die Flasche hin. „Nun dann. Du bist nicht aus Bochum, oder?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Woher dann?“
„Schweden.“
„Oha. Ganz schön weit weg. Und du kannst, wenn ich das so sagen darf, perfekt deutsch.“
„Danke!“ Sie lächelte.
Er nahm die Flasche und drückte auf den Bügel. „Das ist Fiege Pils!“, erklärte er. Der Bügel ploppte.
Sie friemelte an dem Verschluss herum.
„Du musst unten auf den Bügel drücken.“ Sowas. Kannten die Schweden keine Bügelverschlüsse?
Er kam um den Tisch herum, griff ihre Hand und führte sie an den Bügel. „Da, da musst du drücken.“ Die Flasche ploppte. Er zog die Hand zurück. „Ich hoffe, das war nicht zu aufdringlich.“
„Nein, nein. Schon gut.“ Sie lächelte.
Er setzte sich wieder auf seinen Platz. „Prost!“ Er hielt ihr die Flasche hin.
Sie griff die Flasche und nahm einen Schluck. Dann hielt sie ihm ihre Flasche hin. „Prost!“, sagte sie.
„Wegen mir gerne“, grinste er und nahm einen Schluck aus seiner Flasche.
Sie verzog das Gesicht. „Was ist da drin?“
„Das beste Bier Deutschlands. Und ich übertreibe da nicht. Fiege Pils ist wirklich eines der besten Biere überhaupt. Jeder Bochumer weiß das, wir trinken das wie unsere Muttermilch. Ihr trinkt wenig Bier in Schweden, oder?“
„Nein, ich trinke sonst gar kein Bier.“
„Aber Alkohol ... den trinkst du sonst schon?“
„Normalerweise auch nicht, nein.“
Oha. Was war das für eine Frau?
Er wusste nicht mehr wirklich, was er noch sagen sollte. Verdammt, das Loblied auf die Brauerei ... das war vielleicht auch schlicht zuviel gewesen. Oder?
Und wieso trank eine Frau, die sonst strikte Antialkoholikerin war, mit einem Wildfremden Bier? Einfach so? Und wieso hatte sie das nicht gesagt? Er hätte ihr ja sonst kein Fiege geholt, sondern eine Cola oder sowas.
Schließlich räusperte er sich. „Willst du noch ein Bier?“
Sie lächelte und nickte. In der Tat, sie hatte ausgetrunken. Er nahm ihr die Flasche ab und holte zwei neue aus dem Kühlschrank. Er nickte dem Budenbesitzer hinter der Theke zu.
Der schaute auf. „Wie viele hattet ihr?“
„Ist die zweite.“
„Könnt ihr zahlen? Ich krieg das sonst nicht richtig mit ...“
„Aber klar.“ Er drehte sich zu Roxette um. „Kannst du ...“
„Natürlich.“ Sie lächelte und griff in die Tasche ihres Rocks. Stimmt. Die Frau hatte keine Handtasche. Hatte die alles im Rock?
Sie holte auch kein Portemonnaie raus, sondern ein Bündel Geldscheine. Sie nahm den Äußersten und drückte ihn ihm in die Hand. Ein Hunderter.
„Reicht das?“
„Äh. Ja.“ Er drehte sich zur Theke um und übergab den Schein.
Der Besitzer grummelte. „Nur Großscheine heute. Muss eben hinten neues Kleingeld holen ...“
„Er kann den Rest behalten. Sag ihm das.“ Roxette sagte das einfach lapidar dahin.
Paddy erstarrte. Zwei Dönerteller, vier Bier, das waren nicht mal zwanzig Euro zusammen. „Bist du sicher?“
„Ja, klar.“
Paddy schaute den Dönermacher an, der vermutlich einen ähnlich ratlosen Gesichtsausdruck zeigte wie er selbst. Dann fasste er sich. „Also gut, dann nehme ich nochmal vier Bier mit zum Tisch, und du behältst den Rest.“
Sein Gegenüber blieb noch kurz mit offenem Mund stehen, dann schaute er genauer auf den Hunderter. Er hielt ihn kurz gegen das Licht, dann zuckte er mit den Achseln. „Ich beschwer mich nicht. Nimm dir.“ Er deutete mit einer einladenden Handbewegung auf den Kühlschrank. „Gerne auch ... noch ein paar.“
Paddy holte noch mehrere Biere – nichts verkommen lassen! – und ging dann zum Tisch zurück. Verdammt. Diese Frau war komisch.
Aber toll. Sie sah wirklich gut aus, die Beine ... die Brüste, ein wenig kleiner, aber dennoch rund und ...
Paddy riss sich zusammen. Wenn er das nicht alles sofort instantan versauen sollte, durfte er nicht so starren. Er blickte ihr stattdessen in die Augen und lächelte. Natürlich bleiben. Er selbst bleiben.
Verdammt. Er selbst war gerade mit der Situation überfordert. Unglaublich. Er hatte natürlich schon einige Beziehungen gehabt, er war kein Idiot oder Anfänger, was Frauen anging, aber was hier gerade passierte, ging über seinen Horizont.
Die Dönerteller kamen. Er nahm Messer und Gabel zur Hand. Nicht weiter auffallen, nicht ungeschickt sein.
Sie schaute ihm dabei zu. Verdammt, prüfte die gerade, ob er mit Messer und Gabel essen konnte?
Oder erforderte die Höflichkeit, dass sie anfing? Nein, er durfte nicht anfangen, bevor sie ihr Essen hatte, aber das stand ja dampfend vor ihr.
„Guten Hunger. Probier ruhig.“
„Gerne.“ Roxette lächelte immer noch, dann nahm auch sie das Besteck zur Hand.
Er ass schweigend. Irgendwie wollte er immer etwas sagen, aber es war schlauer, einfach noch einen Bissen in den Mund zu schieben oder einen Schluck Fiege dazu zu spülen. Dann kam man nicht in Verlegenheit, irgendwelchen Mist zu reden.
Das nächste Bier war schneller alle, als er gewollt hatte. Er war alles andere als ein Anfänger im Biertrinken, aber ein ganz leichtes Befreiungsgefühl gab ihm das schon.
Plöpp. Die nächste Flasche flog auf.
Plöpp. Sie tat es ihm nach.
In der Tat hatte Roxette auch das dritte Bier offen. Und ja, die anderen beiden waren leer. Ebenso wie ihr Teller. Auf seinem war noch Reis und ein wenig Fleisch. Und er dachte, er hätte geschlungen.
Sie lächelte. Verdammt, die Frau musste unterhalten werden.
„Was machst du in Bochum?“, fragte er. Doofe Frage, aber musste ja kommen.
„Ein Auftrag.“ Sie lächelte weiter.
„Ein Auftrag. Ah. Arbeit.“
Sie nickte. „Und was machst du in Bochum?“
„Ich wohne hier. Und ...“ Er schluckte. Na ja. Was sollte das auch. „Ich bin, wie der Amerikaner so schön sagt, between Jobs.“
Das war nur so halb gelogen. Für „Between“ fehlte ja eigentlich ein „Davor“, und auf das „Danach“ konnte er nur hoffen, aber immerhin hatte er an der Uni mal ein halbes Jahr lang in der Bibliothek ausgeholfen. Als Hiwi. Das war ein Job. Also hatte er davor einen Job gehabt.
„Aha.“ Sie lächelte immer noch. Verdammt, konnte diese Frau nichts anderes als Lächeln?
Nein, sie sollte bloß nicht damit aufhören. Das wäre schlecht gewesen.
Er drückte sich schnell die fehlenden Fleischstücke und den letzten Reis in die Backe. Sie trank inzwischen weiter. Sie schien das wirklich zu genießen.
Verdammt, füllte er gerade eine Frau ab, um sie abzuschleppen? Sowas tat er nicht.
Aber nein, wenn hier jemand gerade wen abfüllt, dann Roxette ihn, nicht umgekehrt. Eigentlich gab es aber überhaupt keinen Grund, um sich darüber zu beschweren.
Gab es solche Frauen? Frauen, die sich einfach so dachten, heute Abend schnappe ich mir mal einen Typen, der über die Straße geht? Auch einen arbeitslosen Metaller wie ihn?
Nymphomaninnen?
Verdammt, und wie kam er jetzt darauf? Die Frau war nur mit ihm essen, mehr nicht. Er war nicht in Amerika. In Deutschland konnte man einfach so mit Frauen essen gehen, und das musste wirklich erstmal gar nichts heißen.
Vielleicht wollte diese Frau nur Bochum als Kulturregion kennenlernen, und er war ein typischer Einheimischer. Sie wollte einfach nur die Stadt sehen. Genau. Und hatte mal eben das Essen bezahlt. Beschweren konnte er sich nicht, vor allem, da noch genug Bier obendrauf war. Wenn er die Biere nun mitnahm ...
Plöpp. Ihr viertes Bier ging auf. Verdammt, da konnte er ja kaum mithalten. Nein, besser. Angriff.
„Oh, ich sehe, dir schmeckt das Bier. Ja, wir Bochumer sind das mehr gewohnt, ich genieße das mehr ...“
„Ich genieße das auch. Und es schmeckt nach mehr.“ Sie nahm den nächsten Schluck.
„Gut, wenn du das genießt. Soll ich dir gleich ... ich meine, du willst doch sicher Bochum kennenlernen, wenn du schon mal da bist?“
„Oh, ich war schon an einigen Orten. Das reicht.“
„Gut.“ Verdammt. Er war nicht gut im Small Talk.
„Ich suche noch einen Ort, wo ich schlafen kann.“
„Oh, ja. Bei dem Geld, das du hast, gibt es viele Hotels. Am Bahnhof zum Beispiel ...“ Er hielt inne. Verdammt, er hatte nie in einem Hotel gewohnt, alle Leute, die ihn besuchten, übernachteten bei ihm ...
„Ah. Hotel. Ja. Schläfst du auch da?“
„Nein. Ich wohne ja hier.“ Was war das für eine Frage?
„Hier? Bei dem Döner?“
„Äh ... nein. Ich schlafe zuhause.“
„Wo ist das denn?“
„Äh ... meine Wohnung. Hinten, zwei Zimmer ... Dorstener Straße, ziemlich am Anfang ...“ Was stotterte er denn da?
„Kann ich da nicht auch schlafen?“
Sie lächelte. Sie wurde nicht rot. Sie fragte einfach nur das.
Was gerade passierte, konnte unmöglich real sein. Es war einfach nicht wahr. Er träumte. Er pikste sich mit der Gabel. Aua. Es war entweder real oder ein verdammt realistischer Traum. Wenn, dann durfte er gerade nicht aufwachen.
„Aber klar“, sagte er. Einer seiner Wahlsprüche, der sich leider eher selten rentierte, war der, dass die Wohnung immer so aussehen musste, dass man eine Frau reinbringen konnte, ohne sich zu schämen. Es war nicht blitzblank, nicht übermäßig ordentlich, aber nicht so, dass sich alles stapelte. Er atmete tief durch. Das rentierte sich nicht oft, aber heute schon. Und er hatte heute Morgen noch geputzt, da er keine Lust gehabt hatte, die Bewerbungen zu schreiben.
„Gehen wir?“, fragte sie. Wie selbstverständlich ging sie zur Theke, holte einen weiteren Hunderter heraus, legte ihn auf die Theke, lächelte den Dönermann an, holte vier weitere Flaschen aus dem Kühlschrank und hakte sich bei ihm ein.
„Oder willst du noch hierbleiben?“
Er schüttelte nur den Kopf.
– Linda –
Sollte sie den Dutt auflösen?
Linda fuhr sich noch einmal durch die Haare. Eigentlich stand er ihr, fand sie. Sie wollte so sein, und dann durfte sie auch durchaus immer so sein. Meist hatte sie ihn entfernt, wenn sie sich mit Steffi traf.
Einmal alle zwei Wochen, das hatten die beiden ursprünglich mal vereinbart. Steffi und sie. Mädelsabend. Es sich richtig gutgehen lassen.
Martin, Steffis Mann - die beiden hatten nach drei Jahren Beziehung endlich geheiratet - passte auf den Kleinen auf, und so konnten sie mal wieder richtig losziehen. Wurde auch Zeit. Das letzte Mal hatten sie das vor der Geburt gemacht.
Ins Bermudadreieck. Das war die Welt, in der man verschwand, danach war das benannt. Man ging dahin, und dann sagte man, man käme nicht wieder hinaus. Dabei war sie da immer wieder rausgekommen, so schlimm war das gar nicht..
Eigentlich war das nicht ihre Welt. Diese Studentenkneipen, wo das Jungvolk verkehrte ... nun ja. Sie war eigentlich nicht wirklich viel älter. Viele Studenten waren sicher genauso alt oder älter als sie. Aber es war nicht ihre Welt.
Steffi war die Ausgeflippte. Steffi schlug immer solche Dinge vor. Und sie ließ sich darauf ein.
Der Gedanke zog sie wieder ein wenig herunter, aber sie ließ sich nichts anmerken. Die großen Fenster waren gut geputzt, ein schlechter Laden war dieser hier nicht. Die Abendsonne schien auf den Konrad-Adenauer-Platz. Ein schöner Anblick.
Allerdings war es von der Jahreszeit her noch ein wenig zu früh, um sich dort niederzulassen. Also hinein in die Gaststätte. Nein, in die Kneipe.
Steffi wartete schon. Vor ihr stand ein Getränk in einer Art Glaskelch, mit einer Fruchtscheibe obendrauf. Grün. Linda kannte die Frucht nicht, aber das war sicher so ein modischer Cocktail.
„Hallo Steffi!“
„Linda, schön dich zu sehen!“ Die Freundin fiel ihr kurz um den Hals. Eigentlich mochte sie so viel Nähe nicht, aber Steffi durfte sich das erlauben. Aber bitte nur Steffi.
„Trinkst du da Alkohol?“, fragte sie. Steffi stillte doch noch, oder?
„Nein, nein. Das ist ein Rabbi.“
„Ein Rabbi?“
„So heißt der. Rhabarber-Birne mit Kiwischeibe. Lecker. Nur Saft, kein Alkohol. Ich stille doch.“
„Aha. Und das schmeckt?“
„Klar, probier mal!“
„Nein, danke. Ich bleib bei Cola.“
„Soso. Cola, und das nach Sechs, bist du sicher, dass du danach schlafen kannst?“
Linda stockte. Das war sicher wahr. So weit hatte sie nicht gedacht. Verdammt, da hatte sie gerade beinahe Steffi Vorwürfe wegen des Cocktails machen wollen, und selbst handelte sie so verantwortungslos ...
„He, setz dich. Das war ein Scherz.“
Linda setzte sich neben ihre Freundin. Der Tisch war für vier Personen. Der Laden war recht voll, aber es gab noch an anderen Tischen Platz.
Die Bedienung kam. Sicher auch eine Studentin, kurz geschnittene Haare, ein Piercing im Nasenflügel. „Hi, was kann ich dir bringen?“
Linda passte nicht, dass man in diesen Kneipen immer geduzt wurde, aber andererseits war das üblich und kein Grund, Einspruch zu erheben. Also schluckte sie nur einmal, schaute dann betont unentschlossen und sagte dann: „Erstmal ein Wasser.“
„Alles klar. Du hast noch genug?“ Die Bedienung schaute Steffi an.
„Noch einen Kaffee.“
„Geht klar.“ Die Bedienung zog sich zurück.
Linda schaute ein wenig erbost. „Du schimpfst, weil ich eine Cola will, und ...“
„Das war kein Schimpfen, Linda. Das war ein Scherz.“
„Du stillst! Ist Koffein ...“
„Ich hab genug Milch abgepumpt. Die reicht bis morgen früh. Martin gibt dem Kleinen die Flasche. Alles gut. Bis morgen ist das locker abgebaut.“
„Ich finde schon, dass du da nicht ganz verantwortungsvoll ...“
„Linda. Hör bitte auf.“
„Warum? Ich meine, du hast doch eine Verantwortung ...“
„Ja, die habe ich. Und? Die bin ich eingegangen. Und ich weiß, was gut ist.“
„Aha? Und was ist daran gut?“
„Gut ist, wenn ich einen Abend mit einer Freundin verbringe und so ausgeglichener bin. Dann bin ich eine bessere Mutter, als wenn ich wie eine Glucke auf meinem Küken hänge, den ganzen Tag.“
Linda schloss die Augen. „Meinst du?“
„Linda. Wir sind hier, um unseren Spaß zu haben, oder?“
„Ja. Irgendwie schon.“
Steffi packte sie am Arm. „Das ist jetzt unser erster Abend seit fünf Monaten. Das erste Mal, dass ich nach der Geburt aus dem Haus komme, so wirklich.“
„Ja, ich weiß.“
„Ich verlange ja nun wirklich nicht, dass wir durch die Discos ziehen. Aber ich will mich wieder mit dir treffen.“
Sie nickte.
„Und dann komme ich hier an und sehe, dass du dir einen Dutt zugelegt hast.“
„Ich ... ich fand den gut.“ Mist. Steffi hatte den noch gar nicht gesehen. Das hatte sie vergessen.
„Wirklich? Diese Nadeln ... irgendwie wirkt das unglaublich altmodisch.“
„Ja.“
Steffi lehnte sich zurück und atmete schnaufend aus. „Linda. Pass auf. Du warst nie die, die rausging, auf die Piste, wie man so schön sagt ...“
„Nein, das warst immer du.“
Steffi schüttelte den Kopf. „Nein, war ich nicht.“
„Was? Du warst doch immer ...“
„Mal in der ein oder anderen Kneipe, ja.“
„In den Studentenkneipen. Wie der hier.“
Steffi lachte auf. „Der Laden hier hat das Flair einer Studentenkneipe, aber eigentlich können sich richtige Studenten kaum leisten, hier zu trinken und zu essen.“
„Oh, da vorne, an dem Tisch, das sind bestimmt ...“
„Nein, das meine ich nicht. Hier werden welche sein. Aber für die Studenten ist das hier gehobene Klasse. Die wirklichen Studentenkneipen, irgendwo in den tiefen Kellern unter Wohnheimen, da gehst du eh nicht hin. Ich übrigens auch nicht. Da passieren die wirklichen Dinge. Da wird ... einfach mehr getrunken.“
„Mehr als hier?“
„Oh, tu nicht so. Du wirst hier kaum Leute sehen, die wirklich über den Durst trinken, und keiner wird sich hier wirklich daneben benehmen. Nichtmal dann, wenn du bis zum Ende bleibst.“
Linda schluckt und schaute sich um. War das Leben wirklich so anders?
„Linda?“
„Ja?“
„Du fühlst dich hier schon nicht wohl. Ich merke das.“
„Na ja, das ist so ...“
„Deine Welt endet am inneren Ring.“
„Wie bitte?“
„Du wohnst im inneren Ring, du arbeitest im inneren Ring, und schon hier, zwei Seitengassen nach dem inneren Ring fühlst du dich nicht mehr wohl.“
„Das ... das stimmt nicht! Ich arbeite im Jobcenter, das ist außerhalb! Das kannst du so nicht sagen!“ Sie fühlte sich hier nicht wohl, weil es hier nichts wohlzufühlen gab. „Du bist immer die, die so ausgeflippte Dinge tut ...“
„Ausgeflippte Dinge?“
„Ja!“
„Meinst du, ein Studium beenden, einen Job kriegen, heiraten, Kinder kriegen?“
Linda schluckte. „Du ... du machst ...“ Wie sollte sie das sagen? „Du hast da immer Beziehungen gehabt ...“
„Wir kennen uns seit acht Jahren, und in der Zeit hatte ich fünf Freunde. Stimmt. Du hattest zwei. Das ist aber beides nicht viel. Und von den Fünfen waren drei wirklich kurz.“
„Ja, eben. Sowas ...“
„Keiner war so kurz wie Jo bei dir.“
Sie schluckte. Jo. Mit dem war sie drei Wochen zusammen gewesen. Das war wirklich nicht viel. Und ... wenn sie ehrlich war, vermisste sie ihn immer noch. Sie presste die Lippen zusammen.
„Oh, verdammt, Linda, das wollte ich nicht.“ Steffi schaute sie so mitleidig an. Stiegen ihr wirklich Tränen in die Augen? Nein, Jo war keine Träne wert. „Linda, sorry.“ Sie nahm sie in den Arm. Linda legte Steffi den Kopf auf die Schulter und seufzte nur.
Schließlich rappelte sie sich auf. „Lass uns nicht über Jo reden.“
„Wollte ich auch gar nicht.“
„Lass uns gar nicht über Männer reden.“
„Oh, der da vorne, an der Theke, der ist doch ganz schnuckelig.“
„Du bist verheiratet!“
„Du aber nicht. Los, geh hin, und sprich ihn an.“
„Na, du kommst auf Ideen.“
„Glaubst du, er kommt, und spricht dich an?“
„Wohl kaum. Warum sollte er das tun? Er kennt mich doch gar nicht.“
„Richtig. Und du kennst ihn auch nicht. Und das wird für immer so bleiben.“
„Ich will doch gar nix von dem.“
„Das weißt du schon, bevor du den kennst?“
„Hör auf. Nicht über Männer reden.“
„Na gut.“
„Und mein Horizont endet nicht am inneren Ring.“
„Nicht? Wo denn?“
Sie seufzte. Was sollte die Frage denn? Musste da denn ein Ende sein?
„Ich gehe jedenfalls jede Woche zum Sport. In ein Fitnessstudio, Herner Straße. Jenseits des Ringes.“
„Ins Fitnessstudio.“
„Ja, klar.“
„Frauenaerobic.“
„Nein, das ist einfach nur Aerobic.“
„Mit wie vielen Männern?“
„Einem, der Trainer.“
„Ist der nett?“
„Ja.“
„Na, dann ...“
„Und schwul. Hat er direkt beim ersten Termin gesagt.“
Steffi seufzte. „Siehst du, was ich meine?“
„Nein.“
„Doch.“
„Na gut.“ Sie gab sich geschlagen. Ja, wenn sie wirklich Männer kennenlernen wollte, machte sie wohl gerade alles falsch. Aber wollte sie das überhaupt?
„Linda, du siehst toll aus. Wenn du einfach mal suchst, findest du einige, die sich für dich interessieren.“
„Aha. Aber vielleicht interessieren die mich ja nicht.“
„Du kommst mit einem Dutt in die Kneipe. Ich bitte dich. Das mag in Ordnung sein, wenn du auf solche ... keine Ahnung. So Rollenspiele stehst. Sechziger Jahre, Sekretärin, mit dem Chef. Auf dem Schreibtisch.“
„Jetzt wirst du ekelig.“
„Ähem. Das dürfte die sexuelle Assoziation sein, die die Leute mit dir verbinden, wenn du so herumläufst. Willst du das?“
„Die sollen gar keine sexuelle Assoziation bei mir haben ...“
„Deine Klienten vermutlich nicht, aber das sind ja nicht alle Menschen.“
„Klienten klingt, als wäre ich Anwältin.“
„Wie nennst du sie denn?“
„Fälle. Offiziell haben wir Kunden. Ich bin ja im Jobcenter, nicht mehr im Sozialamt.“
Steffi seufzte. „Die Sprachregelung hilft aber nicht wirklich bei den eigentlichen Problemen, oder?“
Linda schüttelte den Kopf. „Die Leute sind Probleme.“
Steffi schaute sie mit zusammengekniffenen Augen an. „Hilfe, Lina. Das sind ja ganz neue Seiten. Du hasst deinen Job?“
„Nein. Ich mag meinen Job.“
„Du magst diese Leute nicht?“
„Nein. Diese Verlierer mag ich nicht. Man muss etwas für die Gesellschaft leisten. Aber ich kann das da. Ich kann denen Feuer unter dem Hintern machen ...“
„Linda ... so kenne ich dich gar nicht. Du warst doch früher nicht so! Du hast dich doch freiwillig versetzen lassen, um den Leuten da zu helfen! Du wolltest nicht mehr Kinderfreizeitaktivitäten bearbeiten, sondern Leuten, die wirkliche Probleme haben! Hast du dich mal gefragt, warum die Leute keinen Job haben?“
„Weil sie faul sind.“
„Bist du sicher? Das warst du nicht immer.“
„Ja. Einer hat mir heute nach einem Monat ganze vier Bewerbungen gebracht. Wie soll der jemals noch was werden?“
„Na ja, gut. Sicher nicht jeder.“
„Steffi, ich bearbeite hauptsächlich Arbeitslosengeld II-Anträge. Das Wort kennen viele von denen gar nicht, die sagen immer Hartz IV-Anträge. Ich habe ein paar dabei, die kurzfristig arbeitslos sind, das sind oft echt Lichtblicke, aber die vermittle ich meistens so schnell wieder, dass ich die nicht lange sehe. Und die, bei denen das nicht klappt, da geht es bergab. Man kann beim Siechtum zusehen. Die meisten Leute, die ich betreue, haben noch nie gearbeitet oder sind seit über einem Jahr arbeitslos. Das ist fast niemand, der einfach nur gekündigt wurde und nun nach neuen Möglichkeiten sucht. Das sind die, die durchs Raster fallen. Die sind nicht im Rahmen der Arbeitslosenversicherung da.“
„Hmm. Das ist ja blöd. Dadurch, dass du die guten wegvermittelst, bleiben nur die anderen da.“
„Schön, dass du das verstehst.“
„Aber ... ich weiß nicht. Hast du da keine anderen Ziele im Leben?“
Linda seufzte. Es ging ihr wirklich etwas im Kopf herum, das sie aber noch nie von sich gegeben hatte. Wenn sie das jemandem überhaupt erzählen konnte, dann Steffi. „Der Abteilungsleiter ist gerade zum Dezernenten befördert worden.“
„Abteilungsleiterin? Wäre das was für dich? Im Jobcenter?“
„Nein, in der Stadt. Also der, der vorher formal mein Vorgesetzter beim Sozialamt war. Jetzt habe ich natürlich einen vom Jobcenter, der mir sagt, was ich zu tun habe.“
„Willst du das denn werden? Bei der Stadt?“
„Ja.“
„Hast Du da Chancen?“
Linda zuckte mit den Schultern. An sich reichte die formale Qualifikation. Nur wurden auf so eine Stelle in der Regel entweder Akademiker eingestellt – oder jemand, der deutlich mehr Berufserfahrung hatte. Oder die Stelle wurde über die Politik vergeben. „Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass ich viele Chancen habe, aber ... ach. Ich weiß auch nicht.“
Steffi nickte. „Dein Leben ist klar und deutlich, oder?“
„Wie meinst du das?“
„Wann stehst du morgens auf?“
„Um 6 Uhr 40.“
„Warum nicht um Sieben?“
„Dann schaffe ich es, genau um Viertel vor Acht auf der Arbeit zu sein.“
„Warum? Wann hast Du Dienstbeginn? Öffnungszeit?“
„Ab Acht.“
„Du bist aber gerne vorher da, weil ...“ Steffi schaute sie erwartungsvoll an.
„Der Chef kommt um zehn vor Acht. Dann bin ich gerne schon da.“
„Dein Chef.“
„Ja.“
„Der Abteilungsleiter.“
„War er mal. Jetzt ist er Dezernent. Und der ist auch nur noch formal mein Chef.“
Steffi grinste. „Der das ja schließlich auch mitbekommt, wie fleißig du bist.“
„Jetzt nicht mehr. Der ist jetzt Dezernent. Der sitzt ...“
„Im Rathaus. Der war noch nie im Jobcenter.“
Sie schluckte. Woher kannte Steffi sich so gut in der Verwaltung aus? „Woher weißt du das?“
„Weil du mir das schon vor acht Wochen erzählt hast, als du mich nach der Geburt im Krankenhaus besucht hast. Ich habe dich gefragt, wie es dir geht, und du hast mir das alles erzählt.“
Linda starrte zu Boden. Hatte sie seit acht Wochen nichts anderes zu erzählen?
„Dann ... habe ich das schon erzählt.“
„Das ist nicht das, was mich wundert.“
„Nein?“
„Nein. Mich wundert, dass du um Viertel vor Acht kommst, um deinen Chef zu beeindrucken. Das ist ja vielleicht sogar nachvollziehbar. Aber dazu, Linda, muss dein Chef das doch erst einmal merken! Schreibst du ihm dann schon Mails?“
„Nein. Ich ... ich bin dann da und ... plane die Gespräche.“
„Aha. Hast du einen Chef im Jobcenter?“
„Einen Teamleiter. Der heißt Alex. Da kann ich aber nicht ... also, der ist nicht für Beförderungen zuständig. Formal unterstehe ich dem nicht.“
„Aha.“
„Der kommt auch selbst erst um Halb Neun. Hat ein Kind, das er zur Kita bringen muss.“ Linda seufzte.
„Was machst du dann also? Die Gespräche ... wie meinst du das? Die ergeben sich doch daraus, wer kommt, dachte ich?“
„Ich ... ich meine, die Gespräche, die kann ich ... ach. Ich weiß auch nicht. Vielleicht kommt der Teamleiter oder der Dezernent ja rein und schaut ... ob ich wirklich immer noch ...“ Sie sprach nicht weiter. Verdammt. Steffi kannte sie einfach viel zu gut. Es war nicht gut, wenn Leute so nahe an einen herankamen. Natürlich würde ihr Chef nicht hereinkommen, der war gar nicht für das Jobcenter zuständig. Und Alex war offenbar glücklich, wie sie arbeitete.
„Linda?“
„Ja?“
„Du solltest mir vielleicht öfter Dinge erzählen, damit ich Dir mal an ein paar Stellen die Augen öffnen kann.“
„Und ich sollte dir die Augen über Koffein öffnen.“ Linda grinste.
Steffi grinste ebenfalls. „Nun gut. Dann lass uns mal heraussuchen, wer was zum Thema Stillen und Koffein herausfindet.“ Sie zog ihr Handy aus der Tasche. „Wer am meisten Seiten findet, die seinen Standpunkt untermauern, trinkt meinen Kaffee.“
Linda grinste ebenfalls. Das war eine Herausforderung, auf die sie gerne einging. Steffi hatte doch die besten Ideen.
– Rodiar –
Er hatte keine Idee mehr, wo er noch suchen sollte. Die Holzhütte, in der Leress lebte, war leer.
Rodiar war gekommen, um sie zur Rede zu stellen. Keine Ausflüchte, kein Betteln, kein „Komm doch zurück“. Nur noch ein deutliches „So wirst du mich nie mehr behandeln.“ Mehr wollte er ihr gar nicht um die Ohren hauen. Er wollte sie überraschen, beschimpfen und sich dann umdrehen und verschwinden. So ähnlich, wie sie es mit ihm gemacht hatte.
Irgendwo in seinem Hirn saß jemand, der ihm sagte, dass das kindisch und albern war, und jemand anders, der ihm sagte, dass Leress da vielleicht doch drauf stände und zu ihm zurückkehren wollte. Aber er wollte auf keinen von den beiden hören.
In der Siedlung standen einige hundert Hütten. Die Rashan bauten Holzhäuser und lebten darin, und sie blieben gerne bei Ihresgleichen. Einige hatten sich Ecken im Wald gesucht, Höhlen oder andere Zufluchtsorte, in denen man wohnen konnte. Einigen gefiel auch einfach, direkt im Wald zu leben, aber die größte Siedlung der Rashan war hier, das Hüttendorf. Aus dem Wald geschlagen, mit Holz aus dem Wald, wie sich das im Land der Rashan gehörte.
Leress‘ Hütte war leer. Dann würde sie das eben nicht zu hören bekommen. Nun, damit musste er leben. Und sie auch. Und sie sollte schließlich sowieso aus seinem Leben verschwinden.
„Suchst du jemanden?“
Sharinnia. Auch, wenn die Rashan keine formale Hierarchie hatten, war ihre Autorität unangefochten. Sie war das, was die Rashan „in Ehren ergraut“ nannten. Wenn sie sprach, hörte man zu. Wieso war sie ausgerechnet jetzt hier?
„Ich suche Leress.“
„Ich glaube, Leress hat sich von dir getrennt. Kann das sein?“
Sollte es ihn wirklich verwundern, dass die Alte das wusste? Sie schien alles zu wissen.
„Ja, Sharinnia. Es ist nur so ... sie hat mir Dinge gesagt, die ich nicht verstehe. Sie ... Ach, ich weiß auch nicht.“
„Du hast geglaubt, du findest sie hier und kannst ihr auch hässliche Dinge sagen?“
Er presste die Lippen zusammen. „Ja.“
„Nun, sie ist nicht hier. Und ich denke, es ist das Beste, wenn du sie in Ruhe lässt. Du brauchst Zeit, sie braucht Zeit, beide müsst ihr nun damit klarkommen. Ihr könnt nicht erwarten, dass sich alles fügt. Gerade du musst das nun einsehen.“
Er seufzte.
Sharinnia hatte sicher Recht.
Sie blickte ihn aufmunternd an. „Rodiar. Es gibt mehr Frauen hier. Sie ist nicht die Einzige ...“
„Ja, ich weiß.“
„Ich kenne das.“
„Du kennst das? Wie hat das jemals jemand ...“
„Ich war nicht immer so selbstbewusst wie heute. Und auch das hilft nicht bei allen Problemen weiter.“
„Unglaublich.“ Rodiar starrte die alte Rashan mit offenem Mund an. Er schloss ihn, als ihm das bewusst wurde.
„Gräme dich nicht.“
Er nickte.
„Dann widme dich anderen Dingen!“
Er nickte wieder und drehte sich um.
Sharinnia ging würdevoll von dannen. Rodiar sah sich noch einmal um. Er drehte sich schon zum Gehen. Im Augenwinkel sah er etwas neben der Hütte liegen.
Ein Blatt. Ein Blatt von einem Pladosbaum, einem Baum voll der reinen Essenz.
Er packte das Blatt. Wie kam es dahin? Es sah abgerissen aus. Als hätte es an einem Ast gehangen.
Aber einen Ast von einem Pladosbaum abzureißen - das ging nicht. Der Baum galt als mystisch und mächtig, es war gegen die Gebote, das zu tun. Sicher hatte jemand nur das Blatt abgerissen. Es gab nicht viele von diesen Bäumen.
Leress? Hatte sie das abgerissen? Was wollte sie damit?
Pladosblätter erlaubten, Sprünge durch den Raum zu vollziehen, zu teleportieren. In den Brunnen, mit deren Hilfe sich alle Wesen im Reich fortbewegten, waren Pladosblätter verarbeitet. Wie genau das ging, wusste Rodiar nicht, das war Sache der Shaziim.
Sie hatte wohl weggewollt. Fort.
Aber dazu hätte sie doch einfach den Brunnen der Siedlung benutzen können.
Er packte das Blatt. Wie immer, wenn man etwas mit Plados tat, eröffnete sich nicht nur ein neuer Weg vor ihm. Auch eine neue Sicht auf die Welt wurde ihm zuteil.
Er sah Spuren von Sprüngen. Er blickte auf den Brunnen, der still in einiger Entfernung vor ihm lag. Er erkannte, langsam verblassend, wer in der letzten Zeit aus dem Brunnen gekommen war. Oder hinein.
Rashan. Vier verschiedene Rashan. Die Essenz war zu schwach, um sie genau zu erkennen.
Mehr konnte er nicht erkennen. Doch, da. Eine andere Essenzspur.
Neben dem Brunnen.
Was war das?
Er näherte sich. Die Spur sah aus wie eine Tür. Ein Portal! Da hatte jemand ein Portal geöffnet!
Das war doch verboten! Die Rashan ... nein, niemand durfte mit der Welt jenseits kommunizieren. Das war seit Jahrhunderten untersagt.
Immer wieder hörte man davon, dass Wesen das dennoch taten. Und immer wieder wurden Wesen dafür bestraft. Es war verboten, es war gegen die Gebote!
Und mit Entsetzen bemerkte er, wer dieses Portal geöffnet hatte. Die Essenzspur kannte er nur zu gut. Er wollte es nicht wahrhaben, aber die Frevlerin war Leress gewesen.
Was fiel der denn ein? Ihn zu verlassen war das eine. Aber die andere Welt zu betreten?
Er musste Sharinnia informieren! Das war ...
Wenn er Sharinnia informierte, würde die nachforschen. Und Leress bestrafen. Leress würde ihn nicht einmal mehr anspucken. Und vermutlich verbannt werden.
Er zögerte.
Es war richtig, den Rat zu informieren. Es war richtig, Frevler zu melden. Frevler zu decken konnte nur ins Unglück führen.
Es war falsch, einfach durch das Portal hinterherzuschreiten. Er würde bald ohnehin keine Gelegenheit dazu mehr haben, denn das Portal löste sich langsam auf.
Er ging hindurch.
– Paddy –
Es war einfach nicht wahr. Nie passiert.
Oder?
Er drehte sich zu ihr um.
Nein, natürlich war er allein im Bett.
Roxette war seiner Fantasie entsprungen. Roxette. Er hatte sicher einfach zu viel gebechert. Aber verdammt, das war so real gewesen.
Und er fühlte sich gut, verdammt gut. Als hätte er die halbe Nacht Sex gehabt. Wie sie über seine Haut gestrichen hatte, gefragt hatte, woher er das Amulett hatte, das er einfach nicht ausgezogen hatte – das alte Erbstück seiner Mutter ...
Hmm, wo war das jetzt?
Und seine Haut war wirklich zerkratzt. Sie war damit mehrfach über die Haut gefahren. Es gab sogar kleine Blutflecken auf dem Laken. Sie hatte ... intensiv damit gespielt. Und mit anderen Dingen ...
Er setzte sich auf.
Roxettes Rock lag noch auf dem Boden. Von ihr – oder dem Oberteil, das sie getragen hatte – war nichts mehr zu sehen.
Es war tatsächlich passiert.
Unglaublich.
War sie im Bad? Nein, die Tür stand offen.
Obwohl ... die Frau war so komisch gewesen – aber nein, dass man die Tür zum Badezimmer zumachte, musste sie wissen.
Er reckte sich hoch. Auch, wenn er gestern echt gut gebechert hatte - Roxette war kaum betrunken geworden, er selbst hingegen ... aber er fühlte sich nicht schlecht.
Ziele im Leben haben. Roxette wiedertreffen. Nein, die war ...
Nein, sie war nicht im Bad.
Sie war weg. Ihr Rock war noch da.
Kopfschüttelnd zog er den Rock hoch. Geld fiel aus der Tasche. Viel Geld. Der ganze Rest des Bündels von gestern.
Hunderter und Fünfziger.
Er schluckte.
Was war das denn? Wieso ließ ihm die Frau das Geld hier? Und den Rock?
War das die Bezahlung für so eine Nacht?
Nein, das konnte er nicht nehmen. Er hatte nun wirklich seinen Spaß gehabt, sie auch, das war eindeutig. Und er ...
Na ja. Vermutlich war er einfach ein Abenteuer für die Schwedin gewesen. Einfach eine Nacht Spaß haben, und gut.
Aber selbst, wenn sie ihn als ... wie nannte man das eigentlich? Callboy? Selbst dann brauchte sie ihn nicht mit ... wie viel?
Er packte die Scheine und begann zu zählen. Wahnsinn. Zehn Hunderter, also Tausend, Zweitausend, Dreitausend ...
Er schluckte. Da war immer noch mehr. Er zählte weiter.
Vierzehntausendachthundert Euro. Zog man die beiden Hunderter ab, die sie gestern bezahlt hatte, war die Frau mit fünfzehn Riesen im Rock herumgelaufen. Na gut, dreißig Halbriesen, weil es ja seit dem Euro keine Tausender mehr gab.
So viel bekam er als Hartz IV-Empfänger im Jahr nicht. So viel Geld auf einmal hatte er noch nie gesehen.
Er schluckte noch einmal. Dann packte er das Geld und steckte es in seinen Nachtschrank.
Nein, das war ein doofes Versteck. Aber zur Bank bringen konnte er es nicht. Und es war nicht seins.
Sicher würde Roxette gleich vorbeikommen und es zurückfordern, und natürlich würde er es ihr zurückgeben. Gar keine Frage.
Aber wieso ging sie ohne ihren Rock aus dem Haus?
Das Geld wurde bestimmt geklaut. Er musste es aufteilen, damit noch etwas da war, wenn man bei ihm einbrach. Er teilte das Geld in acht etwa gleich wertvolle Haufen auf und verteilte die Scheine in den besten Verstecken, die er in seiner Wohnung finden konnte.
Verdammt, bei ihm brach niemand ein, wieso auch? Niemand vermutete bei ihm etwas.
War das vielleicht so eine Drogengeldwäscherin? Nein. Geldwäscher ließen ihr Geld nicht mit dem Rock bei ihrem Lover herumliegen.
Lover. Nein, mehr als ein One-Night-Stand war er nicht, das wusste er. Obschon er nichts dagegen gehabt hätte, da noch ein paar Nächte draufzusetzen.
Klarwerden.
So eine Frau wie Roxette bekam man nicht, wenn man sich um nichts kümmerte. Wenn alles egal war.
Er musste ... so jemandem etwas bieten. Außerdem hatte er eh nichts anderes vor. Und sie würde bestimmt gleich zurückkommen und ihren Rock und das Geld zurückfordern. War sie wirklich ohne Rock auf die Straße gerannt?
Roxette war komisch gewesen, aber das konnte er sich nicht vorstellen.
Aber ein Problem nach dem anderen lösen. Jetzt würde er erst einmal Bewerbungen schreiben. Dann konnte sie sehen, dass er an seiner Zukunft arbeitete, wenn sie zurückkam.
Verdammt. Ein One-Night-Stand konnte ganz schön inspirierend sein.
Die nächste halbe Stunde verbrachte er mit dem Verfassen von Bewerbungen. Er war eigentlich richtig gut darin, wenn er erst einmal anfing. Im Flow schrieb er nicht vier, sondern acht Unternehmen an. Und er fand sogar, dass er bei dreien davon fast schon Chancen haben könnte.
Dann tütete er die Unterlagen ein – Kopien von Lebensläufen und Zeugnissen hatte er in einem Anflug von Wahnsinn wirklich genug gemacht, die zahlte das Jobcenter. Er achtete darauf, jede Bewerbung zweimal auszudrucken, einmal als Nachweis für Frau Glasmacher, und packte das zweite Exemplar in eine Mappe.
Er adressierte die Umschläge, dann duschte er, zog sich an und ging zur Post. Er schämte sich ein wenig, als er einen von Roxettes Fünfzigern zum Bezahlen des Portos nutzte. Das Geld würde er wiederkriegen. Ach Quatsch, das hatte er nun gar nicht mehr nötig. Das würde er Frau Glasmacher sagen, dieser blöden Pute! „Ich habe die Bewerbungen schon selbst abgeschickt. Dann müssen Sie und die Steuerzahler sich da keine Mühen mehr machen!“ Er übte den Satz mehrfach. Er musste so süffisant klingen, wie die blöde Pute ihm gegenüber sonst klang.
Er hatte nun genug Geld, um ohne Frau Glasmachers Gnade klarzukommen. Genug, um die nächsten Monate einfach so zu überstehen.
Er schluckte. Er hatte nur dann genug, wenn Roxette nicht zurückkam. Mist.
Sollte er hoffen, dass sie nicht kam? Aber dann musste er sie suchen. Er konnte das ja nicht einfach behalten. Oder? Das Porto würde sie ihm bestimmt verzeihen, wenn er ihr halt einen Fünfziger weniger zurückgab.
Aber an und für sich hätte er nichts dagegen, wenn sie zurückkam. Aber so oder so, eigentlich würde er nicht wirklich verlieren.
Ob sie sich wundern würde, wenn sie nach dem Geld fragte, und er das so ... verteilt hatte? Sie würde bestimmt denken, dass er das behalten wollte ...
Nein. Das waren die falschen Gedanken für so einen Moment. Er musste immer noch grinsen, wenn er an die Nacht dachte.
Fröhlich pfeifend – so gut gelaunt, wie er schon lange nicht mehr gewesen war – zog er gen Jobcenter. Kurz überlegte er, die U-Bahn zu nehmen, aber ihn zwang nichts zur Eile. Einmal quer durch die Stadt, das machte ihm heute gar nichts aus.
Er bemerkte Mike erst, als der schon zweimal gerufen hatte. Sein deutlich übergewichtiger Freund saß in einem Café und hatte schon das erste Bier offen. Sein speckiger Pullover glänzte fast in der Morgensonne. Irgendwie hatte er immer denselben Pullover an, oder mehrere davon. Paddy hatte ihn nie gefragt.
Kopfschüttelnd ging Paddy zu ihm zurück. Er hatte ihn wirklich übersehen.
„Tomaten auf den Augen?“ Mike grinste.
„Um die Zeit schon dicht?“
„Nein. Ist nur ein Frühstücksbier in der Frühstückspause.“ Mike arbeitete als Hausmeister in einem der Wohnhäuser in der Gegend. „Heute ist nicht viel zu tun.“
„Du wirst noch zum Alkoholiker.“
„Und du zum Moralapostel. Du lässt doch auch kein Fiege stehen. Und warum grinst du so?“
„Frag mich, wie viele Sex-Stellungen ich letzte Nacht ausprobiert habe.“
Mike verdrehte die Augen. „Wir hatten also Sex.“
„Ja.“
„Na, das kommt vor.“
„Los. Frag.“
„Okay. Du hattest Sex. Na gut. Wie viele Stellungen hast du ausprobiert?“
„Alle.“
„Ah. Chuck Norris.“
„Genau.“
„Wer war denn die Glückliche?“
„Komische Sache. Gestern sprach mich eine Frau an. Einfach so. Sah total gut aus. Leicht hervorstehende Nase, süße Augen, tolle Brüste. Fragt, wo man Essen gehen kann. Da mir nix einfällt, hab ich Dinge aufgezählt, und sie wollte echt Döner. Da hat sie mich dann eingeladen, wir haben Fiege getrunken und sind dann im Bett gelandet.“
„Oha.“
„Und ... na ja, ich weiß nicht, ob ich das erzählen soll.“
„Erzähl mir alles. Los.“ Mikes anzügliches Grinsen machte klar, was er wissen wollte.
„Nein, darüber schweige ich. Ich meine was anderes.“
„Schade.“
Mike konnte er eigentlich vertrauen. Sein Freund würde ihm das Geld nicht stehlen, er kannte ihn seit Jahren. „Also, heute Morgen war sie weg.“
„Passiert.“ Mike zuckte mit den Schultern und nahm einen Schluck Fiege.
„Ja. Aber ... ihr Rock war noch da.“
„Oha. Hatte sie was zum Wechseln dabei?“
„Nein. Nichtmal ne Handtasche. Sie hatte nur den Rock, ein rotes Oberteil und Geld im Rock.“
„Rotes Oberteil?“
„Ja, mehr hatte sie nicht. Keine Jacke, obwohl das ja nun echt nicht sehr warm ist. Nichtmal eine Handtasche. Ich kenne kaum Frauen, die ohne ...“
„He, warte mal. Blonde Haare, halblang, rotes Oberteil, vorstehende Nase. War das ein Jeansrock? Nicht sehr lang? Keine Jacke?“
„Ja. Exakt. Kennst du die?“
„Nein, woher. Aber die ist eben hier vorbeigegangen.“
„Wie bitte?“
„Ja, die ist eben hier vorbeigegangen. Also ... ist schon eine Weile her.“
„Wann denn?“
„Beim ... Frühstück.“
„Du machst doch gerade Frühstück.“
„Das ist das zweite Frühstück.“
„Hobbit.“
„Ja. Aber beim ersten Frühstück ist sie hier vorbeigegangen.“
„Wohin denn?“
„Ins Rathaus.“
„Was?“
„Ins Rathaus.“
„Vielleicht arbeitet sie da. Vielleicht hat sie ihre Handtasche da ... aber Moment, da hatte sie den Rock an? Einen Jeansrock?“
„Ja, klar.“
„Den hat sie bei mir vergessen. War wohl doch wer anders.“
„Na ja, ich hab halt genauer hingesehen. März, kurzärmeliges Oberteil, aber schien nicht zu frieren, und halt der Jeansrock. Nicht sehr lang, aber jetzt kein Mini. Hmm. Klar, hier rennen eine Menge Frauen rum. Die ist mir aber aufgefallen, weil sie keine Jacke trug. Hab echt noch gedacht, das könnte ne Nutte sein. Aber die Schuhe ...“ Er stockte.
Paddy stockte ebenfalls. Er konnte sich nicht an ihre Schuhe erinnern. Das Oberteil und der Rock hatten neben dem Bett gelegen, aber die Schuhe ... sie musste sie doch ausgezogen haben, oder ...
„Ich hab irgendwie nicht geschaut. Ich meine, Nutten haben ja in der Regel so Plateauschuhe oder sowas.“
„Ja. Ich weiß nicht mehr, welche Schuhe sie anhatte ...“
„Ja, ich hatte das kaum überlegt, da hatte ich das auch schon wieder vergessen.“
„Komisch.“ Paddy kratzte sich am Kopf.
„Ich kapier‘s auch nicht. Prost.“
„Prost.“
„Willst du auch eins? Ich würd dir einen ausgeben.“
„Muss zu meiner Sachbearbeiterin.“
„Oh. Zur Glasmacher.“
„Genau der. Meiner persönlichen Ansprechpartnerin.“ Er spuckte das förmlich aus.
„Vor der hätt‘ ich ernsthaft Angst.“
„Kennst du die?“
„Nein. Aber du erzählst immer so von der. Aber tröst‘ dich, auch solche Leute werden pensioniert.“
„Ich weiß gar nicht, wie alt die ist.“
„Nicht? Du erzählst immer nur so von so einer gruseligen Hornbrille und wie schrecklich sie ist ... das klingt immer uralt.“
„Na ja, keine Ahnung, einen Dutt trägt sie auch.“
„Holla.“
„Aber heute hat sie nichts zu mosern. Ich habe genug Bewerbungen hier in dieser Mappe!“ Paddy wedelte damit herum. „Also, die Kopien. Die Richtigen sind schon losgeschickt. Und jetzt, ehrlich gesagt, will ich erstmal ins Rathaus. Mal schauen, ob ich Roxette da irgendwo treffe. Sie hat auch ihr Geld bei mir vergessen.“
„Roxette?“
„So heißt sie.“
„Bist du sicher?“
„Keine Ahnung.“
Mike holte sein Handy raus und tippte darauf herum. „Hmm. Google liefert das offenbar nicht wirklich als Namen, aber ich hab keine Ahnung. Wikipedia sagt, die Band hat sich wohl nach einem Stück von Dr. Feelgood benannt. Kenn ich nicht. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass das ... ach, was weiß ich. Roxette gibts über 30 Jahre, warum sollte da niemand sein Kind so genannt haben. War sie jünger als 30?“
„Ich hab nicht die geringste Ahnung. Ich weiß nicht, wie alt sie war. Sie hat nicht viel von sich erzählt.“
„Glückspilz. Oder ... ach egal. Glückspilz. Na ja, wenn du sie nicht findest, hat sie halt Pech. Aber dann hat sie ’nen Grund, nochmal vorbeizuschauen. Sieh es positiv: Vielleicht gibt es Stellungen, die du noch nicht kennst.“
„Ich bin mir sicher, dass das nicht mehr der Fall ist.“ Paddy grinste.
Mike schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Na ja, egal. Lass dich nicht aufhalten, ich muss gleich auch wieder weg. Der Elektriker kommt. Und schon richtig, würde gerne noch eins trinken, aber ... nein, das wäre nicht gut. Bis dann mal!“
„Bis dann!“ Paddy ging los.
Er würde erst ins Rathaus gehen und versuchen, Roxette zu finden. Die Bewerbungen konnte er auch danach noch zu Frau Glasmacher bringen.
– Linda –
Der achte Kunde. Klient. Fall. Idiot. Was auch immer.
Wieder jemand, der echt kein Ziel im Leben hatte, wieder jemand, der die Stimmung kippte. Stimmung.
Eben war noch ein ausgebildeter Mechatroniker da gewesen. Der hatte jetzt schon zwei Jobzusagen, und musste nur noch annehmen. Er hatte sich nur von ihr verabschieden wollen. Echt ungewöhnlich, aber ein Zeichen dafür, dass sie ihren Job verstand.
Der Abend mit Steffi war noch ganz nett geworden, als sie aufgehört hatten, sich über diese dummen Dinge zu unterhalten. Sie hatte nach Martin und dem Kleinen gefragt, und Steffi hatte noch einiges erzählt. Und der Mechatroniker hatte die Stimmung auch gut hochgehalten.
Und ihr Horizont endete natürlich nicht am inneren Ring. Sie war ja hier schon darüber hinaus. So ein Unfug. Aber der Horizont der Kunden, oder Klienten, oder Idioten ... oder Fälle. Ja, das war nur ein Fall. Etwas, womit sie ihr Geld verdiente, mehr nicht.
Dieser Fall war auch wieder jemand, dem man klarmachen musste, dass es so nicht ging.
„Sie haben mir versprochen, mit Haut und Haaren für ihre Bewerbungen da zu sein. Sie haben mir versprochen, zu dieser Firma zu fahren und dort das Bewerbungsgespräch zu absolvieren. Pünktlich. Und dann teilt mir Herr Koster mit, dass Sie nicht da waren!“
Helmut Bardstockel, in Ehren ergrauter 53-jähriger Heizungsmonteur. Das berühmte Häuflein Elend.
Der Mann hatte vermutlich wieder gesoffen. Sie nahm einen tiefen Atemzug. „Und Sie haben wieder getrunken, richtig? Waren Sie deshalb nicht da?“
„Ich ... ich ... wollte das nicht. Wirklich nicht.“
„Herr Bardstockel. Sie sind jetzt seit 3 Jahren in der Kartei. Seit 3 Jahren arbeiten wir daran, für Sie eine Stelle zu finden. Und das ist schwer genug. Herr Koster ist bereit – nein, er war bereit – Ihnen zumindest ein Vorstellungsgespräch zu bieten. Sie hätten mehr sein können.“
Bardstockel schluchzte. Herrgott! Musste der Mann denn jetzt das Weichei spielen! Musste sie ihre Zeit wirklich mit solchen Gestalten vertun?
„Ich weiß nun wirklich nicht, ob Sie so eine Chance noch einmal bekommen. Ich habe mehrere Stunden rumtelefoniert, bis ich jemanden gefunden hatte, der einen Heizungsmonteur wie Sie brauchen kann. Ich möchte Sie aus meiner Kartei haben. Ich möchte, dass Sie wieder arbeiten. Und was tun Sie? Nichts.“ Sie ließ sich in ihren Stuhl zurückfallen. „Und jetzt wollen Sie den Bewilligungsbescheid für diesen Monat?“
Bardstockel schluchzte und nickte. „Ich ... ich gehe dahin.“
„Na, da muss ich erstmal einen neuen Termin machen. Hören Sie zu. Sie kriegen den Bescheid. Ich fülle den hier aus – da haben Sie Glück, weil ich keine Lust mehr habe, meine Zeit damit zu verschwenden. Sie bringen mir eine perfekt geschriebene Bewerbung. Bis morgen. Dann kriegen Sie den Bescheid.“
Bardstockel nickte.
„Und nun empfehle ich Ihnen, mir aus den Augen zu gehen, bevor ich mich hier vergesse. Das ist kein schöner Anblick für uns beide.“
Bardstockel nickte noch einmal, nahm die Bewilligung in Empfang, erhob sich und schlurfte hinaus.
Alleine der Gang. Ein echter Monteur, auch wenn er nur Geselle und kein Meister war, schlurfte nicht so. Der ging aufrecht. Dieser Mann hatte auch seine Würde versoffen.
Linda seufzte. Sie schaute kurz über den Monitor und durch das Fenster in den Warteraum. Drei Leute noch da, sechs hätten kommen müssen. Na ja, noch war ja Zeit.
Sie rief die Daten zum nächsten Fall auf. Henriette Bluch. Gerade erst auf Alg II gerutscht, bis vor einem Monat noch auf Alg I ... vielleicht war da Hoffnung.
Ihr Telefon klingelte. Sie dachte nicht lange nach, von wo der Anruf kam, sie hob ab. „Glasmacher.“
„Linda! Freut mich.“ Sie erkannte die Stimme sofort. Remmy. Eigentlich Harald Remmeln, aber jeder nannte ihn Remmy. Nein, sie hatte ihn Remmy genannt, als er ihr Abteilungsleiter gewesen war. Jetzt war er der Dezernent.
„Remmy ... ich meine, Harald.“ Ihren Dezernenten zu duzen war merkwürdig. Sie hatte das bei ihm als Abteilungsleiter schon sehr kollegial gefunden. Wenn sie Abteilungsleiterin wäre, würde sie das nicht dulden. Es war ihr ein wenig gewollt freundschaftlich vorgekommen.
„Bleib bei Remmy. Bin ja kein anderer. Hör mal, ich hab ein paar Dinge mit dir zu besprechen. Dauert etwa eine halbe Stunde. Wann hast du Zeit?“
Sie schluckte. Was konnte Remmy nur wollen? Er war nun Dezernent. Hatte sich einer der Idioten beschwert?
Sie hatten plötzlich einen Kloß im Hals. „Ich ... ich ... ich kann sofort kommen.“
„Ah, das ist toll. Wirklich. Keine Kunden mehr da? Ich kenn die Abläufe bei euch ja nicht. Ich hab auch die Tage noch Zeit.“
„Doch aber, na ja, die sind nicht so wichtig ...“
„Kein Problem. Hör mal, wenn das in zwei Stunden besser passt, geht das auch.“
„Nein, nein. Ich kann sofort kommen. Ich brauch mit der Bahn alles in allem etwa 20 Minuten.“ Sie ging im Kopf die Fehlenden durch. Die drei mussten noch Papiere für ihre Bewilligungsbescheide bringen. Die Bescheide lagen hier. Wenn die drei sie einfach bekamen und sie die Papiere an sich nahm, ging das schnell. „Ich brauch hier nicht lange, das passt.“
„Prima. Bis gleich.“ Remmy legte auf.
Sie packte sich die Mappe, die sie morgens bereits vorbereitet hatte. Die heutigen Bescheide lagen der Reihe nach in Fächern. Sie trat hinaus.
„Sie haben Glück“, verkündete sie ohne Begrüßung. „Ich werde Ihre Unterlagen ohne weitere Prüfung an mich nehmen und Ihnen die Bescheide ausstellen.“
Die drei verbliebenen Idioten grinsten wie Honigkuchenpferde. Na, das würde sich nächsten Monat rächen. Neuer Monat, neue Belehrung. Aber wenn sie zum Dezernenten sollte, hatte das natürlich Priorität.
Sie nahm die Papiere an sich und legte sie in die Mappe. Dann verteilte sie die Bescheide an die Leute, packte die Mappe in ihr Büro, hängte das Schild „Bin bald zurück“ an die Tür und ging in Richtung der U-Bahn.
Der Strom an Studenten war um diese Zeit nicht so schlimm, die U 35 war nicht überfüllt. In die andere Richtung fuhr man um diese Zeit besser noch nicht, in einer halben Stunde, wenn sie zurückkam, ging das schon besser.
Das Rathaus war nie ihr Arbeitsplatz gewesen. Das Sozialamt, in dem sie vorher unter Remmy gearbeitet hatte, war aber direkt nebenan, und natürlich kannte sie sich aus. Wobei sie nicht oft oben in den Dezernatsabteilungen gewesen war. Sie klopfte sie an die Tür und trat auf Aufforderung ein. Johanna, Remmys Sekretärin, lächelte. „Linda. Komm rein. Remmy erwartet dich.“ Sie wirkte nicht etwa böse, feindselig, oder ... nein. Es schien um nichts Schlimmes zu gehen.
Dennoch klopfte ihr Herz. Hatte sie etwas falsch gemacht?
Sie betrat den Raum. Das Dezernentenbüro war nicht riesig, aber doch deutlich größer als ihr kleines Beratungszimmer. Im Gegensatz zu ihrem Zimmer standen hier auch einige persönliche Dinge und Bilder, wie Remmy sie mochte oder zu mögen vorgab – sie hatte ihn vorher nicht als Experten für abstrakte Farbkleckse wahrgenommen, aber hier waren so einige bunte Kunstdrucke. Das letzte Mal war sie vor drei Monaten hier gewesen, bei der Beförderungsfeier.
Remmy trug immer noch dieselbe leicht verfilzte Krawatte. Das Sakko und die Hose waren neu, und so richtig wohl schien er sich darin nicht zu fühlen. Immerhin war sein Hemd sauberer – früher hatte er immer leichte Probleme gehabt, sich in der Kantine nicht zu bekleckern. Andere fanden, das mache ihn sympathisch, sie fand es immer unprofessionell. Die Haare waren noch grauer geworden, und ein paar Kilo zugelegt hatte er zusätzlich.
Dennoch strahlte er. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Er stand auf und begrüßte sie per Handschlag. „Linda. Komm rein.“ Er schloss die Tür hinter ihr und deutete auf einen Stuhl am Besprechungstisch. Sie setzte sich.
„Prima“, nickte er. „Gut. Freut mich, dass du kommen konntest.“ Er lächelte immer noch. Andere Leute hätten nun mit Smalltalk begonnen, aber das war nicht Remmys Art. „Ich habe ein Attentat auf dich vor.“
„Aha?“ Ihr Herz begann zu klopfen.
„Pass auf. Ich hab mit deinem Teamleiter gesprochen. Der hat ein wenig gestöhnt. Die Antragsflut wird größer. Das hast du gemerkt, oder?“
Sie nickte.
„Gut. Okay. Dann hat er mir von dir einiges erzählt. Du schaffst am meisten Anträge weg. Und du schaffst es, am wenigsten Geld auszuzahlen.“
Sie stockte. „Ah ... ich ...“
„Nein, du nimmst die Dinge genauer. Das finde ich gut. Ich meine, die Stadt muss sparen, der Staat muss sparen, das ist Direktive. Von der Etage da oben, wie auch vom Bund aus.“ Er deutete nach oben. Dabei war er doch selbst im Verwaltungsvorstand?
„Aha.“
„Also. Wir stellen nächste Woche drei neue Auszubildende ein. Und einen davon wollte ich dir unter die Fittiche geben.“
„Mir?“
„Ja. Ich weiß, das ist eigentlich der Job des Abteilungsleiters, aber so lange es keinen gibt ... Ich weiß. Du bist nicht mehr bei uns, aber ich denke, dass die Abläufe nicht so ganz anders sind als im Sozialamt.“
Sie nickte. Das war vielleicht die Chance, sich zu qualifizieren. Das war ja ohnehin schwer genug, wenn ihre eigentlichen Vorgesetzten in einer anderen Behörde arbeiteten. So konnte sie zeigen, was sie konnte, und dann konnte sie zurück und Remmys vorherige Stellung ....
„Ich meine, die Bewerbungsfrist geht noch einen Monat. Bis dahin müsste der Auszubildende halt ordentlich eingearbeitet werden. Vielleicht schaffst du das ja, dass er dir bis dahin Arbeit abnehmen kann. Wer weiß, vielleicht überlässt der neue Abteilungsleiter dir die Aufgabe ja dann. Klar, das Jobcenter hat eigene Auszubildende, aber machen wir uns klar: Wenn die von uns die besten Leute kriegen, müssen die auch die Arbeit machen, die die Leute sonst tun, oder?“ Er grinste. „Wenn der neue Abteilungsleiter sieht, dass du damit gut klarkommst – und davon gehe ich aus – sieht er bestimmt, dass du das machen sollst. Sonst helfe ich dir natürlich auch, wenn du zu dem Schluss kommst, dass der Auszubildende unbrauchbar ist – na ja, er muss in seiner Ausbildung eh mehrere Abteilungen durchlaufen, das Jobcenter muss da eh nicht sein.“
Der. Neue. Abteilungsleiter.
Sie schluckte.
Ihr wurde erst in diesem Moment bewusst, wie sehr sie gehofft hatte, dass Remmy sie auf dem Posten haben wollte ... aber offenbar dachte der nicht einmal daran.
Sie hatte das bisher nicht zugegeben, nicht vor Steffi, nicht vor sich selbst, nicht wirklich. Aber sie bemerkte an ihrer eigenen Enttäuschung, dass sie sich selbst etwas vorgespielt hatte.
„Du zögerst, merke ich?“ Remmy schaute sie etwas irritiert an.
„Alles klar, alles klar, Remmy. Natürlich gerne.“ Profi bleiben. Nicht enttäuscht sein. Ihre Zeit würde kommen. Sie war jung. Nun erstmal gute Miene. „Ich freue mich schon darauf.“
„Freut mich, freut mich wirklich.“ Er grinste. „Gut. Ich schicke ihn dir Anfang nächster Woche. Am ersten Tag führt der Bürgermeister selbst die Leute rum; das nimmt er ernst, außerdem ist die Presse da. Danach schicke ich ihn dir.“
Sie nickte wieder.
„Gut, Linda. Hast du noch etwas auf dem Herzen?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Gut. Auch, wenn ich jetzt Dezernent bin: Wenn was ist, lass es mich wissen.“ Er gab ihr die rechte Hand und legte ihr die linke auf die Schulter. Nein, nicht unsittlich. So war Remmy nicht. Eher väterlich.
Sie nickte und drehte sich zum Gehen. „Bis dann.“
„Machs gut.“
Sie bewahrte die Fassung, bis sie durch das Vorzimmer mit der Sekretärin durch war. Dann ging sie gemessenen Schrittes auf die Toilette.
Dort setzte sie sich auf die Schüssel und brach in Tränen aus.
Verdammt. Sie durfte nicht zu laut weinen. Bloß nicht laut Schluchzen. Bedeutete ihr das wirklich so viel? Hatte sie da ernsthaft Hoffnungen gehabt?
Sie konnte sich doch einfach bewerben!
Nein, damit machte sie sich lächerlich. Das verstand sie nun.
Sie trug nicht viel Make-up. Das Kajal verlief. Sie wischte das notdürftig mit Klopapier weg.
Sie musste sich beruhigen. Einatmen, ausatmen. Nicht zusammenbrechen, nicht hier in der Verwaltung. Es gelang.
Sie musste weiter denken. Vorwärts.
Sie stand wieder auf und ging zum Spiegel. Notdürftig korrigierte sie mit Papier und Wasser ihre Gesichtsfarbe. Das war nicht perfekt, aber zur Not konnte sie so ins Büro.
Sie rückte die Brille zurecht. Die half. Sie kaschierte einiges von dem, was gerade verlaufen war.
Und sie würde die übrigen Idioten zur Sau machen. Die würden nun ...
Nein, die hatte sie nach Hause geschickt.
Verdammt. Sie trat gegen den Mülleimer. Das bollerte.
Aua. Und ihre Zehen taten weh. „Autsch.“ Hoffentlich hörte das niemand.
Sie trat hinaus, zum Paternoster. Eigentlich mochte sie den nicht. Sicher waren die ... ach egal. Sie würde jetzt wichtig aussehen. Und mit dem Paternoster dreimal das gesamte Rathaus hoch und runter fahren.
Es war ja eh egal, was sie machte. Sie würde sowieso keine Abteilungsleiterin werden. Verdammt.
Sie trat in die nächste Kabine. Zu spät bemerkte sie, dass der Mann in der Kabine sie anstarrte.
Sie blickte ihn an. Verdammt. Das war dieser Seidel!
Und er starrte sie mit offenem Mund an. Na, der kam ihr gerade recht!
„Herr Seidel! Sie wollten mir doch heute die Bewerbungen vorbeibringen!“ Vielleicht war er ja genau darum hier. Er hielt in der Tat eine Mappe in der Hand.
„Äh, ja ...“
„Warum waren Sie heute Morgen nicht da? Brauchen Sie das Geld vom Staat nicht mehr? Haben Sie das nicht mehr nötig?“ Verdammt. Sie musste ruhiger werden. Sie brüllte fast so, dass man das im Rathaus hören konnte. Und überhaupt! „Was machen Sie hier? Sie hätte ich im Jobcenter erwartet. Wollen Sie nutzloserweise Paternosterfahren?“
„Äh, nein, ich war ...“
Was auch immer Herr Seidel sagen wollte, er wurde rüde unterbrochen. Von einem Mann in einem Blaumann. Offenbar dem Hausmeister, oder einem seiner Gehilfen, oder jemandem von der Haustechnik. Jemand, der einfach hier war.
Der Mann sprang in die Kabine, machte einen weiteren Satz auf ihn zu und packte Seidel am Kragen. Na toll, selbst der Hausmeister kannte dieses Subjekt!
„Du riechst nach ihr! Von oben bis unten! Was hast du mit ihr gemacht? Was hast du mit ihr gemacht?“
Oha. Dieser Herr Seidel machte da wohl jemandem die Frau abspenstig. Oder? Nein, das war nicht vorstellbar.
„Ich? Was? Was soll ich denn ...“
„Du ... riechst nach ihr! Na warte!“ Der Techniker holte etwas aus der Tasche. „Das klären wir auf meine Art!“
Der Paternoster war inzwischen hinuntergefahren. Die Kabine fuhr unten seitwärts. Es wurde Zeit, dass sie hier rauskam. „Klären Sie das unter sich, die Herren. Ich steige gleich aus.“ Da wollte sie nun nicht hineingeraten.
Sie schaute kurz weg. Wenn der Techniker Seidel schlug, wollte sie keine Zeugin sein. Der Paternoster fuhr wieder hoch. Seidel schrie auf.
Verdammt. Der Kerl hatte nicht verdient, dass sie sich um ihn kümmerte, aber der Schmerzensschrei klang echt. Sie musste da hinschauen. Sie verdrehte die Augen und drehte sich um.
Der Techniker war kein Techniker mehr.
Der Blaumann war verschwunden. Der Mann war deutlich geschrumpft. Ihm war ein dunkelbraunes Fell gewachsen. Anstatt einer Menschennase hatte er eine vorspringende Schnauze mit einem weißen Streifen.
„Ich bin Rodiar. Und du da, du hast etwas mit meiner Partnerin.“ Die Stimme war leicht pfeifend, aber gut verständlich.
Etwas stimmte hier nicht. Sie musste hier raus. Die Kabine näherte sich der untersten Etage.
Sie sah sofort, dass auch da etwas nicht stimmte. Die unterste Etage lag in Trümmern.
Das Rathaus war nur bis zur ersten Etage vorhanden, darüber war es abgerissen.
Linda rannte aus dem Paternoster, blickte nach oben und schrie.
ENDE DER LESEPROBE