Leseprobe: Bernsteinkugeln

Von Frank Röhr
Böser Drache Verlag

 

(diese Leseprobe darf gerne geteilt und veröffentlicht werden).

 

Prolog

 

Marin trank das Blut aus seinen eigenen Händen.

Er wollte töten. Er wollte mehr Blut schmecken. Blut, das sich nicht wieder abwaschen ließ.

Brendal blickte ihm in die Augen. „Du bist nun einer von uns. Einer der Drei Schwarzen.“

Marin blickte zu ihm auf und schluckte weiter. Mehr.

Brendal neigte den Krug erneut und ein weiterer Schwall ergoss sich in Marins Hände. „Von diesem Moment an bist du ausersehen, Ihm zu dienen. Du bist dazu ausersehen, unserem Weg zu folgen. Du bist dazu ausersehen, das Leben auszulöschen, wo es überhandnimmt. Du bist dazu ausersehen, Seinem Weg zu folgen.“

Marin nickte seinem Ziehvater zu.

Shijin stand still daneben und lächelte ihn nur glücklich an.

Marin spürte die Macht des Blutes durch seinen Körper pulsieren. Mehr.

Der Krug war fast leer. Nur ein Rinnsal floß noch hinaus. Gierig schlang er die Reste hinunter.

Überall klebte Blut. An seinen Händen, auf seinem Leib, auf dem weißen Leintuch, das er als einziges Kleidungsstück trug.

Es gab kein ehrenvolleres Gewand als dieses.

Die Andeutung eines Lächelns glitt über seine blutigen Lippen. Er stand auf und blickte seinen Zieheltern in die Augen.

Wie könnte er diese beiden je enttäuschen?


I

 

„Mach es heißer!“

Der alte Brenner schaute Sarel nicht an, er blickte nur auf die Kugel.

Es roch nach verbranntem Fleisch, wie immer, wenn Julen einem Menschen die Erinnerungen abnahm. Seine Hand und die des Fremden ruhten auf der etwa kopfgroßen Kugel aus Bernstein, darunter flackerte fröhlich das Feuer. Sarel blies hinein. Die Glut wurde heller. Wenn Brennmeister Julen befahl, folgte man.

Das würde nicht reichen. Sie packte den Blasebalg.

Die bisher so klare Kugel trübte sich kurz. Schlieren bildeten sich, zogen durch die Kugel, stiegen scheinbar hinauf, dann verfestigten sie sich in Einschlüssen in allen Farben des Regenbogens. Dies waren die eigentlichen Erinnerungen. Aus der durchsichtigen Kugel wurde auf diese Weise ein einmaliges Kunstwerk.

Der vordere Raum des Hauses bildete den eigentlichen Brennraum. Als einziger Raum des Fachwerkhauses hatte dieser einen Steinboden. In der Mitte stand der Brenntisch mit dem Feuer und dem Abzug. Die Kugel lag über dem Feuer in einer Halterung. Der Schrank, in dem der Meister die leeren Kugeln aufbewahrte, ein weiterer kleiner Tisch mit einem Schemel und ihr Strohbett vervollständigten das Bild. Die Wohnräume des Meisters lagen hinter der Tür. Sarel durfte sich nur hier aufhalten.

Sie betätigte den Blasebalg vorsichtig, wie sie es gelernt hatte. Die Glut wurde heller.

„Das reicht.“ Die Stimme des Meisters ließ das Mädchen aufblicken.

Der Fremde war sicher mehr als doppelt so alt wie sie, dreißig Winter oder noch älter. Er trug fein gegerbtes Leder, man konnte sogar noch Reste einer aufwändigen Verzierung bemerken. Vielleicht Rangabzeichen. Allerdings war es jetzt verschlissen.

Der Mann hatte sich am Vortag in das Dorf geschleppt. Er war schwer verletzt, hatte kaum geredet und war bald in Fieberträumen versunken. Julen hatte als Dorfältester und Brenner beschlossen, dass seine Gedanken aufbewahrt werden mussten. Er hatte sie in die Kugel gebrannt.

„Wissen für das Volk, Wissen für den Graf, Wissen für den König“, beendete Julen mit der üblichen Floskel den Vorgang. „Geschafft.“ Er drehte sich zu Sarel um und ergriff ein Tuch, das neben dem Tisch lag. „Bring sie in die Hütte“, wies er an, als er ihr das Tuch in die Hand drückte.

Sie nickte und umwickelte die Kugel damit. Sie achtete darauf, sie nicht zu berühren. Durch den Stoff spürte sie noch ihre Hitze. „Bis gleich, Meister.“

„Bis gleich, Lehrling“, knurrte Julen. Er wandte sich dem Eimer mit Wasser zu, den Sarel vorher hineingeholt hatte. Der Meister kühlte sich nach jedem Brennen die Hände.

Sarel huschte hinaus und lief den Trampelpfad entlang, der durch Mühlenborn führte. Die meisten der Bewohner des Dorfes waren Bauern, und so führte der Weg auch an mehreren Höfen vorbei, bis zur Halle der Erinnerung.

„Halle“ war ein viel zu großartiges Wort für die kleine Hütte, in der nicht einmal eine mehrköpfige Familie hätte wohnen wollen. Es war eine der kleinsten Hütten im Dorf. Aber überall hieß der Ort, wo man die gebrannten Erinnerungen aufbewahrte, „Halle der Erinnerung“. Dabei war völlig egal, ob es sich um ein Dorf handelte oder um Jornas Bruuhl, die Hauptstadt. Dort war die Halle der Erinnerung ein ganzer Gebäudekomplex.

Das wusste Sarel natürlich nur aus Erzählungen. Ihre eigenen Reisen hatten sie nie weiter als ins Nachbardorf geführt, und schon dorthin hatte es einige Stunden gedauert. Diesen Weg nahm man nicht auf sich, wenn man dort nicht wichtige Dinge zu erledigen hatte. Ihr Vater hatte einmal eine Ladung Kaninchenfelle dort verkauft, und sie durfte ihn begleiten. Seitdem sie bei Brenner Julen in die Lehre ging, hatte sie aber keine Gelegenheit mehr dazu gehabt, ihre Heimat zu verlassen.

Im nächsten Jahr durfte sie für ein paar Wochen in die Hauptstadt. Das gehörte zur Ausbildung: Jeder neue Brenner durfte für einige Tage in der Großen Halle der Erinnerung lernen. Dort, wo auch die Leerkugeln herkamen. Der Bernstein wurde dort von Alchemisten präpariert, damit er beim Brennen nicht in Flammen aufging. Sie freute sich auch darauf, andererseits war ihr ein wenig bange davor. Dort war sicher alles anders. Sie würde das Mädchen vom Land sein, in den abgetragenen Leinensachen. Ja, Julen würde ihr sicher vorher ein neues Hemd besorgen, aber ob sie das bis dahin sauber halten konnte? Sie schaffte es ja nicht einmal, die gewaschenen Sachen einen halben Tag lang halbwegs sauber zu halten. Sie hatte Leute aus der Stadt gesehen, die ganz sauber aussahen. Das lange Hemd, das ihr fast bis zu den Knien ging, war nur dann hellbeige, wenn es frisch gewaschen war. Im Moment ging es eher als braun durch.

Wenn sie sich wusch, konnte man bestimmt auch wieder die roten Haare erkennen. Ob die Leute in der Stadt auch meinten, Rothaarige seien anders, weil sie Haare wie Feuer hatten? Oder glaubte man das nur hier in Mühlenborn?

Ein kräftiges Schnauben von der Weide holte sie aus ihren Gedanken. Pflugler! Die Umrisse ihres Lieblingspferdes zeichneten sich deutlich gegen den hellen Nachthimmel ab. Vermutlich hatte Bauer Rags wieder zuviel gebechert und vergessen, ihn von der Weide zu holen.

Sicher würde Julen nicht merken, wenn sie ihm einen kurzen Besuch abstattete. Vermutlich war er nach dem anstrengenden Brennvorgang so müde, dass er auf seinem Schaukelstuhl einschlief. Das passierte öfter, vor allem, wenn er so spät noch arbeitete.

„Pflugler!“, sagte sie leise. Das Pferd kam an den Lattenzaun heran und schmiegte seinen Kopf an den ihren, wobei es ein weiteres, wohliges Schnauben ausstieß.

Sie schloss die Augen. Warum musste Pflugler nur Rags gehören! Sie würde sicher eines Tages die Nachfolge von Julen antreten, dann konnte sie sich auch ein Pferd leisten. Brenner waren angesehene Leute.

Getrappel aus Richtung des Weges ließ sie aufhorchen. Was war das denn? Pferde? Hier? Es gab ganze zwei Pferde im Dorf, eines davon stand neben ihr, und das andere konnte niemals alleine so einen Lärm machen. Es mussten fremde Reiter sein!

Sie streichelte Pflugler noch einmal über die Nüstern und schlich zurück zum Weg. Es musste ja niemand wissen, dass sie hier gewesen war. Vielleicht waren die Reiter Freunde des Bauern oder des Brenners. Besser war, sie wurde hier nicht gesehen.

Das Hufgetrappel setzte kurz aus. Sie sah um eine Hauswand und erstarrte. Die drei Pferde standen vor der Hütte des Brenners. Einer der drei Reiter saß noch auf seinem Pferd, die anderen beiden waren abgestiegen und wohl im Inneren der Hütte verschwunden.

Wobei sie nicht lange darin blieben. „Ein Mädchen!“, rief einer der Ankömmlinge dem noch Berittenen zu. „Die Halle ist am Ende des Weges.“

Dieser nickte und gab seinem Pferd die Sporen, seine Kumpane saßen auf und taten es ihm nach. Ein kurzer Blick auf die drei Fremden ließ Sarel schlucken. Alle drei waren bewaffnet und trugen festes Leder, einer von ihnen sogar ein Kettenhemd.

Was immer das zu bedeuten hatte, sie wollte von diesen Leuten nicht gefunden werden. Wieso suchten die sie?

Sie würde zurückgehen und das klären. Sie straffte sich und lief, nachdem die Reiter vorbeigeritten waren, zurück zum Haus des Brenners.

„Meister, ich weiß, ich hätte direkt zu Halle, laufen sollen, aber ich ...“, sagte sie beim Eintreten. Sie betrat das Brennzimmer und blieb erstarrt stehen.

Meister Julen war blutüberströmt in seinem Schaukelstuhl zusammengesackt. Der Fremde lag mit dem Kopf auf dem Tisch, ein roter Fleck zeichnete sich hinten auf dem Hemd ab. Links, auf halber Höhe.

Sie hatten ihren Meister getötet. Einfach so. Es konnte nicht lange gedauert haben, sie sah nicht einmal Spuren eines Kampfes. Die Augen des Meisters waren weit aufgerissen und zeigten einen entsetzten Blick.

Sie wollte schreien, doch sie hatte zuviel Angst, dass die Bewaffneten sie hören konnten. Was wollten diese Fremden? Warum töteten sie den Meister?

Und warum waren sie so schnell weitergeritten?

Es dauerte etliche Momente, bis sie die Antwort erkannte, die in ihrer Hand lag. Die Fremden wollten die Kugel! Die Fremden suchten sie, da sie die Kugel zur Halle bringen sollte!

Wenn sie sie fanden, war sie genauso tot wie ihr Meister, daran zweifelte sie keinen Augenblick. Wenn die Fremden sie nicht dort fanden, würden sie sicher zurückkehren.

Sie musste raus, weg von hier.

Kurz überlegte sie, ob sie bei einem der Bauern Schutz suchen sollte. Ihre eigenen Eltern lebten am anderen Ende des Dorfes. Damit das Dorf drei Bewaffneten und Gerüsteten standhalten konnte, musste man es erst ganz mobilisieren. Die Bauern wären genauso tot wie sie. Nein, das durfte sie nicht riskieren..

Sarel drehte sich um und war mit einem Satz bei der Tür. Sie rannte hinaus, in Richtung des Waldes. Ein lauter Schrei hinter ihr bestätigte ihre Befürchtungen. „Da ist das Mädchen mit der Kugel!“, brüllte einer der Bewaffneten. Die drei hielten auf sie zu.

Der Wald. Sie musste den Wald erreichen. Er war das Einzige, was ihr Schutz bieten konnte. Der Wald war ihr Wald. Dort kannte sie jeden Winkel.

Sie schaffte es mit einem deutlichen Vorsprung hinein in das Gestrüpp. Weiter laufen, weiter. Instinktiv wusste sie, wo sie hinmusste: zur Eiche. Ihrer Eiche.

Sie rannte weiter, verfolgt von den Pferden. Sicher konnten sie sie so nicht sehen, aber das Unterholz wurde weiter im Inneren des Waldes lichter, da hier viele Wildwechsel entlang führten. Sich hier zu verstecken war schwierig.

Aber in der Eiche musste es funktionieren. Niemand hatte sie je in der Eiche entdeckt. Wenn sie dort gewesen war, hatten selbst die anderen Kinder aus dem Dorf keine Ahnung gehabt, wo sie sich versteckte.

Die Eiche musste uralt sein. Sie war halb abgestorben und brüchig, und in ihrem Inneren hatte sich ein Hohlraum gebildet. Sarel hatte vor Jahren herausgefunden, dass man sich dort hineinzwängen konnte. Und dann konnte man sich so weit hinein bewegen, dass man vor Blicken von außen komplett geschützt war. Perfekter ging es nicht. Wenn sie irgendwo sicher war, dann dort.

Sie fand den Eingang zu ihrem Versteck. Ein hastiger Blick nach hinten verriet, dass eines der Pferde gestrauchelt war und die Verfolger gerade einen größeren Busch umrundeten, um dann durch den Wald zu reiten. Nein, sie hatte keine Zeit zu verlieren.

Verdammt. War sie wirklich so viel gewachsen seit ihrem letzten Besuch? Ihr Kopf passte kaum durch die Lücke. Noch ein größeres Problem schien die Kugel zu sein, die so gar nicht für diese Art des Verstecks geeignet schien. Mit einem leisen Knacken brach sie ein Stück vom Stamm ab. Verdammt.

Doch die Verfolger schienen mit den Pferden beschäftigt zu sein und hatten das wohl nicht gehört.

„Wo ist das Mädchen?“

„Hab nichts gesehen.“

„Verdammt, wenn sie die Kugel wegbringt ...“

„Das verhindern wir.“

„Sie darf nicht zum König, hat er gesagt.“

„Nein.“

Die Stimmen kamen näher. Angsterfüllt schaute sie auf die Kugel. Der Bernstein, frisch gebrannt, leuchtete noch leicht. Das war so kurz nach dem Brennen ganz normal. Sie musste verhindern, dass er durch das Tuch schien. Sie drehte sich umständlich herum und setzte sich so hin, dass der Bernstein von der Lücke weg zeigte.

Sie packte ihn fest, immer fester. Zu spät bemerkte sie, dass das Tuch verrutscht war und sie die Kugel mit beiden Händen anfasste.

Fremde Erinnerungen durchfluteten sie. Sie wollte schreien, aber das ging nicht. Da war ein fremdes Gesicht. Ein Mann, der den Finger auf den Mund legte und laut „Psst!“ sagte. „Du kannst doch ein Geheimnis bewahren, oder?“

Sie nickte nur. Sie erkannte das Gesicht: Es war der jetzt tote Fremde, der hier sprach. Es waren ja auch seine Erinnerungen, in denen sie gerade unfreiwillig stöberte.

„Du stöberst nicht. Ich zeige dir, was ich dir zeigen muss“, lächelte der Fremde. Er machte jetzt auch keinen verschlissenen Eindruck mehr, er zeigte die Uniform, die er trug, voller Stolz.

Sie wusste, obschon sie noch nie etwas davon gehört hatte, dass dieser Mann ein militärischer Heerführer war. Ein Baron, Taktiker am Hofe des Königs. Ja, das war Baron von Reulenberg.

„Richtig, der bin ich“, sagte die Stimme leise. „Von Reulenberg, im Auftrag des Königshauses auf wichtiger Mission.“

„Ich weiß nicht ... ich bin die Falsche ...“, stotterte Sarel.

„Das bist du nicht“, sagte der Baron bestimmt.

„Wofür bin ich denn richtig?“, wunderte sie sich.

„Das wirst du noch sehen. Ich selbst kann nun wohl nicht mehr zurück, aber du musst in die Hauptstadt, nach Jornas Bruuhl.“

„Was soll ich dort?“

„Das erfährst du noch. Du musst jemandem Bericht erstatten.“

„Wem? Wie? Und ... wie findest du mich?“

Der Baron lachte auf.

„Du wirst nie mehr ohne mich sein.“

 

*

 

Victan lachte leise.

Nierben bemerkte das trotzdem. „Was ist so lustig?“

„Wie du bibberst.“

„Mir ist kalt“, erklärte sein Freund.

Victan grinste erneut. Die dicken, grün-braunen Roben der Akademie, die die beiden als Lehrlinge auswiesen, waren eigentlich warm genug. Er fröstelte nicht, wenn es auch nicht sonderlich warm war. Die braunen Lederstiefel wärmten ihn auch noch. Und mehr Haare als Nierben hatte er auch nicht, die Akademie erlaubte nur den Kurzhaarschnitt bis knapp über die Ohren. Seine Haare waren dunkelbraun, die von Nierben blond, von daher fing sein Kopf sicherlich mehr Wärme von der Sonne auf. Nur war hier im Wald gar keine Sonne. Nierbens Bibbern hatte sicher einen anderen Grund. „Du hast nicht zufällig Angst?“

„Nein.“

„Gegen Kälte kannst du dir ein Kohlestück schnappen und einmal ›Kleine Wärme‹ auf die Hände wirken.“

„Nein, so kalt ist mir auch nicht.“

„Dann hast du doch Angst.“

Nierben schaute trotzig. „Nein. Das ist nur der Wald.“

„Ja, der Wald, über den uns Zumfell gestern diese Geschichte erzählt hat. Hier sollen Kopflose herumlaufen.“

„Na und?“

„Du hast dich unter der Bettdecke verkrochen.“

„Ich war müde.“

„Du hast dich genau dann verkrochen, als Zumfell angefangen hat, zu beschreiben, wie die Kopflosen fressen ...“

„Ich hab keine Angst vor dem Wald!“ Er sagte das ein bisschen zu schnell.

„Du bist eigentlich schon ein paar Jahre zu alt, um vor Schauergeschichten Angst zu haben.“

„Ich habe auch keine Angst!“

Victan ließ es dabei bewenden.

Die beiden erreichten den Waldrand. Victan grinste immer noch. Bei Nierben und ihm stand heute Kräuterdienst auf dem Programm. Jeder Lehrling hatte einen genauen Zeitplan, wann welche Aufgaben anstanden.

Zumfell, ein Jahr älter und bald Prüfling zum Bakkalaureus, liebte es, den jüngeren Schülern der Akademie Schauergeschichten zu erzählen. Victan glaubte keinen Ton davon und genoss sie einfach, aber Nierben hielt es wohl zumindest für möglich, dass tatsächlich Kopflose durch diesen Wald streiften.

Victan verstand Nierben nicht immer. Mit neunzehn Jahren sollte man doch diesen Aberglauben hinter sich gelassen haben.

„Willst du links laufen und ich rechts?“ Victan deutete in zwei unterschiedliche Richtungen.

„Sollen wir nicht nebeneinander herlaufen?“, fragte Nierben. „Dann können wir einen breiteren Streifen abdecken und sicher sein, dass wir nichts übersehen.“

Victan wusste, warum Nierben das vorschlug. Allerdings brauchte die Akademiekammer mehr Kräuter. Wenn sie zu wenig brachten, würden sie ein Donnerwetter von Magister Salpistior bekommen. „Aber nur, wenn wir einen deutlichen Abstand haben.“

Nierben zögerte kurz, dann nickte er.

„Wir laufen nur so, dass wir uns immer gegenseitig sehen“ Victan versuchte, seinen Freund zu beruhigen.

„Ich hab doch keine Angst! Das geht schon.“ Nierbens Lachen klang gequält.

Die beiden drangen in den Wald ein. Victan hielt seinen Blick gesenkt. Ab und an schaute er zu Nierben hinüber, aber sein Freund schien sich auch auf seine Aufgabe zu konzentrieren.

Gut so.

Bald machte er seinen ersten Fund. Ein Hexenkreis Nahlsröhrlinge stand hier. Die kleinen, gelben Pilze brauchte man für etliche Tränke, und er verpackte sie in seinem Sammelrucksack. Diese waren extra für den Kräuterdienst angefertigt und hatten viele einzelne Taschen, damit die Kräuter sich nicht mischten.

Wenig später fand er einen Strang Tiefschwarz. Dabei handelte es sich um ein dunkelgrünes Kraut mit schwarzen Blüten daran. Es blühte ungewöhnlich früh. Stängel und Blüten dienten als Wirkungsverstärker.

Nierben war auch nicht untätig gewesen. Er hatte, wie er seinem Freund hinüberrief, eine kleine Staude mit Glutbeeren gefunden. Er erntete die kleinen, roten Früchte.

Eine Stunde später waren die Säcke der beiden bereits zu einem guten Drittel gefüllt. „Ich denke, wenn wir noch eine Stunde weitermachen, können wir auch umkehren, damit wir rechtzeitig vor dem Mittagessen zurück sind“, meinte Nierben.

„Das denke ich auch“, murmelte Victan. Sicher waren schon Schüler mit mehr Kräutern und größerer Vielfalt zurückgekehrt, aber ihre Beute war schon ansehnlich.

Victan starrte weiter auf den Boden. Dort vorne, waren das Pieksakazien? Die hießen eigentlich anders, aber den richtigen Namen konnte er sich nicht merken. Er nannte sie so, weil er schon mehrfach an den stacheligen Sträuchern hängengeblieben war. Sie produzierten grüne Früchte, die man für magische Stärkung brauchte.

Nein. Das war ein anderer, alchemistisch nicht interessanter Strauch.

Mit einem Stiefel, der herausragte.

„Hier ist ein Stiefel!“, rief er Nierben zu.

Von Nierben kam ein „Jaja. Sehr lustig“ zurück.

Victan trat näher. An dem Stiefel hing noch mehr. Ein ganzer Mensch lag da, kopfüber im Dreck.

„Hier liegt einer“, sagte er tonlos.

„Was ist da?“

„Hier liegt einer.“

Victan ging um den Menschen herum. Sein Kopf lag so, als sei er gestolpert, weggelaufen - nur, vor was? Und er stank.

Victan hatte einmal eine verlassene Speisekammer saubermachen müssen, in der Ratten gehaust hatten. Der Koch hatte die Ratten vergiftet. Danach lagen überall Kadaver herum. Der Geruch hier trieb ihm diese Bilder wieder vor Augen.

Er drehte den Körper um. Der Gestank deutete an, was er nun bestätigt sah: Der Mensch lebte nicht mehr. Die Leiche lag hier wohl schon länger. Victan war kein Medikus, aber seine rudimentären Kenntnisse sagten ihm, dass er nicht erst heute gestorben war. Sein Gesicht war kaum noch zu erkennen, die Haut aufgequollen, die Augen eingefallen.

Nierben trat heran. Er schluckte. „Das ... das ist ... wer ist das? Der ist tot, oder?“

„Ja. Ich hab keine Ahnung, wer das ist.“

Die Leiche trug eine Robe aus grauem, recht feinem Stoff. Neben ihr lag ein etwa zwei Schritt langer Stab. Verästelungen und mystische Runen – ein Zauberstab. Ihre eigenen hatten die beiden in der Akademie gelassen, beim Kräuterdienst störten sie nur. Die Robe war aus besserem Material als die grün-braunen Leinenroben, die die beiden trugen. Was er vom Gesicht erkennen konnte, kam ihm überhaupt nicht bekannt vor, ebenso wenig wie die Kleidung. „Das war bestimmt ein Magister. Aber keiner, den ich kenne“, erklärte Victan.

Nierben schaute nicht genau hin, aber er nickte. „Den habe ich auch noch nie gesehen.“

Victan bemerkte, dass unter dem Kopf die Erde noch feucht war. Eine Kuhle.

„Das war vermutlich eine Pfütze. Es hat seit drei Tagen nicht geregnet, inzwischen ist die ausgetrocknet“, murmelte er. Er sah etwas am Arm des Mannes. „Da, er trägt ein Armband.“

Nierben blieb stehen, also schaute Victan selbst nach. Das Amulett war silbern, eine Eidechse wand sich darum. Solche Armbänder durften nur Repräsentanten einer Akademie tragen. „Die Akademie aus Jornas Bruuhl. Ich erkenne das Zeichen. Und er war wirklich ein Magister.“

Nierben starrte immer noch auf das aufgedunsene Gesicht. „Meinst du, der ist ertrunken?“

Victan zuckte mit den Schultern.

Nierben schaute unsicher umher. „Was machen wir jetzt?“

„Wir müssen die Magister informieren. Die werden wissen, was zu tun ist.“

„Wie finden wir die Stelle wieder?“

Victan sah sich um. „Wir müssen unterwegs den Weg deutlich markieren. Zweige abbrechen.“

Den Rückweg zu finden stellte kein Problem dar. Der Wald war nicht riesig, selbst wenn man sich wirklich verlief, erreichte man nach spätestens einer halben Stunde den Waldrand. Dann konnte man am Rand entlang zurück zur Akademie finden. Einen bestimmten Punkt im Wald zu finden war hingegen schwieriger.

Victan schaute sich um. Er ging ein paar Schritte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Er brach einen Zweig an einem der Bäume ab. Sein Blick fiel auf etwas halb Eingegrabenes.

„Was ist das denn?“ Er bückte sich und griff danach.

„Eine Bernsteinkugel“, durchzuckte es ihn noch. Kurz sah er einige Einschlüsse im inneren der Kugel, dann verschwand das Bild.

Er stand auf einer Lichtung, inmitten eines Waldes, vor einem riesigen Turm. Einem Turm, der auf seine eigene Art bizarr wirkte. Auswüchse an allen möglichen und unmöglichen Stellen, Erker und Balkone. Zuoberst eine Spitze, die mit mehreren fest montierten Riesenarmbrüsten gespickt war.

Vor einem großen Tor an seinem Fuß stand ein Mann. Spitze Nase, schüttere Haare – nun aber gepflegt und gekämmt. Das Gesicht war nicht aufgequollen. Er erkannte ihn dennoch sofort. Es war der Tote. Nur, dass er hier leibhaftig vor ihm stand, den Zauberstab in der Hand.

„Sei gegrüßt, Victan“, sagte er.

„Woher kennt Ihr meinen Namen?“

„Das, was du siehst, passiert nicht wirklich. Das ist nur in deinen Gedanken. Und du weißt, wie du heißt. Ich wusste das zu Lebzeiten nicht.“

„Wie könnt ... ach, wie kannst du dann mit mir reden?“

„Das ist nur eine Erinnerung von mir. Ich wollte immer so einen Turm haben, aber den gibt es nicht. Das ist schon skurril, oder?“

„Ja, der Turm ist ... skurril.“ Victan fand das Wort passend.

„Genau wie ich, ja. Ich muss dir etwas zeigen. Ich weiß nicht, ob du dafür bereit bist.“

„Und wenn ich das nicht bin?“

„Ich denke, das müssen wir herausfinden, meinst du nicht auch? Du wirst nun das Wissen brauchen, das ich zu bieten habe.“

„Wie bitte?“

Der andere machte eine merkwürdige Handbewegung. Die Sicht verschwamm. Er hatte für einen kurzen Moment das Gefühl, dass etwas in ihn einfuhr, ihm etwas zuflüsterte, dann immer lauter wurde. Ihm Dinge sagte, die er nicht fassen konnte, die er nicht verstand. Aber immer mehr, immer lauter.

Dann schlug er die Augen auf.

Magister Salpistior stand über ihm und starrte ihn an.

Er war immer noch im Wald. Nur, dass er nun auf dem Boden lag. Die Bernsteinkugel, die er gerade gefunden hatte, lag neben ihm. Trübe. Ohne Einschlüsse.

„Ah! Du wirst ja doch noch wach!“, tönte die Stimme des Magisters.

„Wo seid Ihr hergekommen, Magister?“

„Aus der Akademie. Als Nierben mich geholt hat.“

Er schaute seinen Schüler an. „Und jetzt steh auf, statt faul herumzuliegen. Du hast die Leiche gefunden?“

„Ja. Ich habe keine Ahnung, wer das war ...“

„Magister Gorshan. Ein Freund von mir.“ Die Stimme des Magisters klang belegt.

„Wann hat Nierben euch denn geholt?“

„Vor zwei Stunden.“

„Wie lange ...“

„Mindestens drei Stunden.“

„Ich war doch nur kurz ...“, stockte Victan. Wo war er gewesen?

„Jedenfalls hast du eine Bernsteinkugel angefasst. Ohne Schutz. Keine Ahnung, was du da gesehen hast. Ich habe es schon überprüft, die Kugel ist leer. Sie hat keine Erinnerungen. Ich denke, du bildest dir da einfach etwas ein.“

„Ich habe aber etwas gesehen!“

„Eine richtig gebrannte Kugel kann beliebig oft gelesen werden. Sie halten die Erinnerungen derer, die gestorben sind. Gorshan wäre wohl in der Lage gewesen, seine Erinnerungen zu brennen. Sein Vater war ein Brenner. Aber das hat er wohl nicht getan, oder zumindest nicht vollständig. Vielleicht hast du ein paar Fragmente gesehen, aber das bedeutet nichts. Erinnerungen sind nur sinnvoll lesbar, wenn der Brennvorgang abgeschlossen wurde.“

Oder, durchzuckte es Victan, weil jemand wollte, dass die Kugel nicht beliebig oft gelesen werden konnte. Er fragte sich, woher diese Idee kam.

Nein. Keine Idee. Er wusste, dass es so war.

Aber warum? Er dachte nach. Nein, das wusste er nicht. Er konnte sich an den Magister und den Turm erinnern, aber danach waren nur Fetzen zu ihm gedrungen. Der Turm als Traum des Magisters war sicher nicht wert, besonders vor den neugierigen Gedanken anderer geschützt zu werden.

„Du hast ein paar Stunden im Wald gelegen. Dir ist sicher kalt“, murmelte der Magister. Er warf Victan ein Stück Kohle zu, das dieser aufschnappte. „Wärm dich auf.“

Victan nickte. Ihm war in der Tat kalt. Er konzentrierte sich. Seine Hände begannen zu glühen, und er rieb ihre Wärme über seinen Körper. Kleine Wärme. Wohlig. Ja.

Das tat gut. Ob er den Magister fragen sollte, ob er noch ein Stück Kohle bekam?

Doch die Hände glühten noch. Seltsam. Eigentlich müsste die Magie eines Kohlestücks jetzt bereits erschöpft sein. War das hier größer?

Das Kohlestück wurde beim Zaubern verbraucht. Jeder Zauber verbrauchte seine Komponenten. „Kleine Wärme“ brauchte ein Kohlestück. Ohne Komponenten gab es keine Zauberei.

Das Kohlestück war nicht groß.

Es war genauso groß wie zuvor. Er verbrauchte es nicht.

Und seine Hände glühten immer noch.

 

*

 

Die Stadt lag im Dunkeln. Auch, wenn Poranis nie ganz schlief, war um diese Zeit zumindest der Großteil der Menschen in ihren Betten und träumte vor sich hin. Nur wenige ahnten, dass über den Dächern eine eigene Welt existierte, die Welt der Diebe. Seine Welt.

Mitshar zwang sich zur Konzentration auf seine Aufgabe. Maurien war wichtig, sonst nichts. Sie wandelte mit der ihr eigenen Anmut über die Dächer. Er konnte mit ihr zufrieden sein.

Natürlich hatte seine Schülerin keine Ahnung, wo er war. Sie schlich von Schornstein zu Schornstein, verbarg sich dahinter, spähte hinaus, bevor sie weiterlief, vergewisserte sich, dass niemand sie beobachten konnte. Wie er sie gelehrt hatte.

Sie trug dieselbe Kleidung wie er: Gut sitzendes Leinen, das genug Platz für die Ausrüstung ließ. Wie auch er hatte sie ihr Gesicht dunkel geschminkt. Flattern dufte nichts. Im Gegensatz zu Mitshar, der schwarze Haare hatte, musste Maurien ihren Blondschopf unter einem Tuch verstecken, so dunkelgrau wie der Rest der Kleidung. Mitshar reichte es, wenn er sich einen Zopf band. Aber sie hatte sorgsam darauf geachtet, keine zu hellen Flecken zu zeigen. Sie war kaum zu erkennen.

Er griff sich noch einmal an seine Stirn. Die Spuren der vorigen Nacht waren immer noch nicht verschwunden. Sehr merkwürdig. Er musste sich höllisch betrunken haben, nur fehlte ihm jede Erinnerung.

Er schüttelte die Gedanken ab. Was war ihm auch eingefallen, sich am Vorabend von Mauriens Prüfung so zu betrinken! Er konnte sich nicht einmal erinnern, wie es angefangen hatte!

Aber das war nicht zu ändern. Jetzt hieß es, sich zu konzentrieren. Er musste ihre Leistung hinterher begutachten und jeden Fehler erkennen.

Sie schlich zielstrebig weiter. Links und rechts schauen, ob jemand sie beobachtete, dann schnell hervorspringen. Ein weiterer Sprung auf das nächste Dach – gut so.

Die Straßen von Poranis waren meist enge Gassen, ein geübter Springer kam fast überall von Dach zu Dach. Ausnahmen waren nur die zwei Hauptstraßen zum Marktplatz, und natürlich der Platz selbst. Die meisten Diebe – und sonstigen Leute, die nicht gesehen werden wollten – überquerten diese am Boden und mischten sich unter die Menge. Dennoch gab es auch über diese Straßen Wege für seinesgleichen. Einige Routen gehörten für sie alle zum Repertoire, andere konnten nur von den besten gelaufen werden. Die, die Maurien heute nahm, um sich ihrem Ziel zu nähern, gehörte zur unteren Oberklasse. Drei Sprünge über Gassen hinweg, und eine Überquerung der Goldenen Allee, einer der Hauptstraßen. Hierzu gab es einen dunklen Winkel, der einzig von zwei Laternen beleuchtet wurde, deren Schein nur nach unten fiel. Sie brauchte diese als Zwischenstationen beim Überqueren. Keine Herausforderung für einen Meisterdieb, aber nichts, was ein Anfänger versuchte.

Mitshar biss sich auf die Lippen. Er hatte sie ausgebildet. Sie würde es schaffen.

Ihre Aufgabe war letzten Endes, auch nicht zu schwierig: Sie sollte dem Grafen den Becher stehlen, in dem dieser immer seinen Schlaftrunk zu sich nahm.

Der Graf war der Herrscher von Poranis. Sein Stammsitz war eine Burg außerhalb der Stadt. In der Stadt selbst hatte er eine standesgemäße Villa. Natürlich gab es eine Wache, die aber war unten im Haus. Mehr war auch nicht nötig, da der Graf seine Reichtümer im deutlich besser bewachten Stammsitz hatte. Solange nur der Becher gestohlen wurde, würde das auch so bleiben – wahrscheinlich vermisste der Graf ihn später nicht sonderlich, wenn er den Verlust überhaupt bemerkte..

Aber Mauriens Gesellenprüfung wäre damit erfolgreich beendet, und gleichzeitig wäre ihre Ausbildung sein Meisterstück. Er lächelte still vor sich hin.

Die Überquerung der goldenen Allee war problemlos verlaufen. Das hatten sie auch lange geübt.

Maurien nahm Anlauf für den weitesten Sprung dieser Strecke. Es ging nur über eine Gasse, sie war aber in der Nähe des Marktes und schon recht breit. Da es von dort aus direkt zum Haus des Grafen ging, gab es keine Alternativroute, diese Stelle war die schmalste, die sie gefunden hatten. Vier Schritte, genau abgemessen. Schritt, Schritt, Schritt ... verdammt. Der war zu weit, das sah er von hier aus. Sie bemerkte es auch, verkürzte den letzten Schritt, aber konnte nicht verhindern, dass sie auf den Rand eines Dachziegels trat, der abbrach.

Der Ziegel knackte – was nicht schlimm war, aber er fiel hinunter, was wiederum einen dumpfen Aufprall hervorbrachte.

Drei Passanten stromerten gerade durch die Gasse. Einer war ein schwankender Trunkenbold, der vermutlich nicht einmal bemerkt hätte, wenn hinter ihm ein Haus umgekippt wäre. Allerdings war da auch ein Pärchen, das gerade Hand in Hand durch die Stadt flanierte.

Beide kamen offenbar auch von einer Feier und sahen sich nun erschrocken um. Und sie schauten auch nach oben.

Maurien hatte es noch geschafft, sich hinter einen Schornstein zu retten. Von unten war sie nicht zu sehen, aber Mitshar konnte ihre Konturen genau erkennen. Tief atmete er ein. Nun durfte sie nicht ungeduldig werden. Eine Laterne unten schien bis auf die Dachschräge, und wenn sie auch nur die Nase hervorstreckte, um sich umzuschauen, würden die beiden unten sie sehen.

Natürlich würden sie sie nicht erkennen, natürlich wäre sie längst über alle Berge, bis sie die Stadtwachen informiert hätten. Aber darum ging es nicht bei einer Gesellenprüfung. Die Aufgabe lautete, komplett unbeobachtet zu bleiben. Und so sehr er seine Schülerin mochte, wenn sie dabei versagte, durfte er keine Nachsicht zeigen, auch wenn es bedeutete, ein Jahr länger zu warten. Vermutlich schaute auch einer der Meisterdiebe zu. Der Bund war sehr wählerisch, wer zu einem Vollmitglied werden durfte.

Doch Maurien war nicht von irgendwem ausgebildet worden, sondern von ihm. Als sie schließlich ihren Kopf hinter dem Schornstein hervorstreckte, war das Pärchen schon lange weitergezogen. Er atmete leise, aber erleichtert, aus.

Maurien wurde nun vorsichtiger. Ein Dieb hatte Zeit. Wenn sie in dieser Nacht keinen Erfolg hatte, würde sie lieber morgen wiederkommen, als einen Fehlschlag zu riskieren. Ein Fehlschlag hieß, ein Jahr länger warten zu müssen, bis man erneut die Prüfung versuchen durfte. Und dazu reichte es aus, gesehen zu werden.

Um sie weiter zu beobachten, musste er nun selbst die Position wechseln. Seine Zielposition war direkt gegenüber der Villa.

Mit zwei gezielten Sprüngen gelangte er über Allee und Gasse. Perfekt. Er war sich sicher, dass nicht nur die braven Bürger von Poranis ihn nicht bemerkt hatten, sondern auch Maurien nicht. Er zweifelte sogar, ob die Meisterdiebe ihn gesehen hatten, aber da war er sich nicht sicher. Es war aber nicht sein Ziel, sich vor ihnen zu verbergen. Er musste nur seine Schülerin beobachten.

Maurien hatte ihr Seil herausgeholt und es mit einem Haken an einem Kamin befestigt. In Windeseile schwang sie herunter, einmal, zweimal an der Mauer abstoßend, dann verschwand sie schon hinter dem geöffneten Fenster.

Er lächelte. Gleich würde sie herauskommen, den Becher in der Hand. Ein vollwertiges Mitglied des Bundes der Diebe. Und er war dann ein vollwertiger Meisterdieb.

Mitshar wartete. Das Bett des Grafen befand sich direkt hinter dem Fenster. Merkwürdig. Er hatte eigentlich erwartet, dass sie sich nur kurz hinein lehnte. Der Graf musste im Haus sein, das hatten die Meisterdiebe vorher eruiert und er trank immer seinen Schlaftrunk. Und selbst, wenn dem nicht so war, hätte sie herauskommen müssen.

War sie gefangen worden? Er hatte nicht das geringste Anzeichen für einen Kampf bemerkt. Kein Ton drang heraus.

Verdammt. Was war da los? Wieso kam seine Schülerin nicht wieder heraus?

Egal wie. Wenn die Prüfung nun nicht bestanden war, würden sie noch ein Jahr brauchen. Vielleicht war das der Preis für seinen Suff am Vorabend. Andererseits konnte er sich nicht vorstellen, dass sie versagt hatte.

Doch es war nicht zu ändern. Ihr Seil hing unbemerkt weiterhin dort, nur ein leichter Luftzug ließ es hin- und herschwingen, keine Spur von seiner Schülerin.

Mit einem unhörbaren Seufzer trat er hervor und schaute sich um.

Der schnellste Weg war schwieriger als der, den Maurien eben genommen hatte. Die Gassen waren hier direkt am Markt deutlich breiter. Aber er wollte heute ein Meisterdieb werden. Ein Meisterdieb kam da hinüber.

Er wusste gar nicht genau, was er tat. Bis vor Kurzem hatte er vor einer solchen Aufgabe gezittert. Er musste hier über zwei Laternen, und eine davon war höher als die andere – und zwar ausgerechnet die zweite.

Er sprang, ohne nachzudenken. Er landete auf der ersten Laterne, perfekte Balance. Leichtfüßig stieß er sich ab, landete auf der zweiten und war hinüber.

Er staunte über sich selbst. Ein Meisterdieb, wahrlich. Und er hatte einiges von seinem Wissen weitergeben können.

Sollte er sein eigenes Seil nehmen? Nein. Wenn sie ihm nun entgegenkam, würde er schnell genug vom Dach verschwinden.

Wenn es wirklich einen Kampf gegeben hatte, musste er ebenfalls vorbereitet sein. Er griff nach seinem Dolch. Alles klar. Er holte die kleine Armbrust hervor, die er unter seinen Umhang geschnallt hatte, und spannte sie. Dann steckte er sie wieder zurück, er brauchte beide Hände zum Klettern.

Er schwang sich an dem Seil hinab. Unsichtbar für die Leute unten. Sein Gesicht zeigte ein feistes Grinsen. Das war nochmal eine andere Klasse als das, was seine Schülerin abgeliefert hatte.

Mit einem leichten Schwingen stand er im Zimmer.

Jedenfalls fast. Er stolperte, er hatte fest mit einem Bett gerechnet, das angeblich direkt hinter dem Fenster sein musste. Es ging aber direkt hinunter, bis auf den Boden. Mitshar hielt die Balance, aber der Fall war ein wenig unerwartet.

Vor ihm stand Maurien mit einer gespannten Armbrust. Und daneben stand, ebenfalls ganz in schwarzes Leder gekleidet, Meister Wulgen. Der Meisterdieb mit den leicht angegrauten Haaren und dem Schnauzbart, der sich immer weigerte, die grauen Haare dunkel zu färben. Ansonsten war der Raum leer, der Graf war nicht hier, nur einiges Gerümpel und Regale waren zu sehen.

„Was ...“, begann er.

„Nun, ich denke, das sollten wir dir erklären, Mitshar, oder?“, grinste der Meisterdieb.

Maurien stand still da und zielte mit der Armbrust auf Mitshar.

„Wo ist der Graf?“, stammelte er, da ihm nichts Besseres einfiel.

„Auf seinem Landsitz. Wie die ganze Woche schon. Und du bist in einer Abstellkammer gelandet.“ Meister Wulgens Stimme hatte einen überheblichen Unterton. „Einer Abstellkammer, die mal ein Schlafzimmer war. Darum hat sie Fenster. Aber sie wird nicht mehr benutzt.“

„Du hast doch gesagt ...“

„Ja. Gesagt. Dass das die Aufgabe für meine Tochter werden soll.“

„Deine Tochter?“

„Du hast das natürlich nicht bemerkt. Wie auch. Mitshar, der Möchtegern-Meisterdieb mit dem unglaublichen Blick für das Detail.“ Meister Wulgen schüttelte bedächtig den Kopf. „Du siehst das Offensichtliche nicht, wenn es vor deiner Nase herumhüpft.“

„Wieso habt ihr mir das nicht gesagt?“

„Wieso?“ Maurien sagte das erste Wort und begann leise zu kichern. „Ich hatte eine klare Aufgabe.“

„Was solltest du denn tun?“

„Zeigen, dass ich würdig bin, dem Bund beizutreten.“

„Ja! Darum solltest du ...“

„Dich töten“, erklärte sie mit einer eiskalten Stimme. „Du bist der, der für die Meisterdiebe zum Problem geworden ist.“

„Wieso bin ich das?“

„Du bist zu weich“, ergriff Wulgen wieder das Wort. „Wir haben in letzter Zeit Gerüchte gestreut, dass Mitglieder des Bundes in Morde verwickelt waren. Wir wollten testen, wie weit die Loyalität unserer Mitglieder geht.“

„Ich habe immer entschieden verteidigt, dass der Bund sich an die Statuten hält! Keine Morde, niemals! Die kommen für mich auch nicht in Frage ...“

Wulgen nickte. „Eben.“

„Aber die Statuten ...“

„Oh, Mitshar. Mitshar, der ewig Gestrige. Mitshar, auch andere haben über die Statuten geredet. Aber du warst der Einzige, der gesagt hat, dass es mit ihm nicht machbar sei.“

„Du meinst, die Morde waren wirklich vom Bund ausgeführt?“

„Nicht vom Bund als Gesamtheit. Von einigen einzelnen, aber ja, zur Mehrung des Profits aller. Und dabei bist du im Weg, darum solltest du Maurien hierher bringen. Damit sie zeigen kann, dass sie bereit ist, für den Bund zu töten.“

Es ergab alles einen Sinn. Die Gerüchte unter den Dieben, die merkwürdigen Raubmorde, mit denen niemand zu tun haben wollte ... er hatte es nicht wahrhaben wollen.

Er ergriff seinen Dolch, wohl wissend, dass das sinnlos war. Seine Armbrust bekam er nicht schnell genug gezogen, auch wenn er sie bereits gespannt hatte. Er hatte Maurien selbst an der Armbrust ausgebildet, sie würde nicht danebenschießen.

„Aber genug davon. Ich denke, ich schuldete dir diese Erklärung, warum du sterben musst. Du stirbst für den Bund der Diebe und eröffnest gleichzeitig die neue Ära des Bundes der Diebe und Meuchler. Ist das keine Ehre? Nun, Maurien, mach deinen Vater stolz. Und vielleicht sogar deinen Ausbilder,“

Sie schoß. Ein perfekter Schuss, mitten auf sein Herz gerichtet.

Sein Arm flog hoch. Schneller, als er es je erlebt hatte. Er war ein ordentlicher Dolchkämpfer, auch wenn er bisher nur wenig Erfahrung im echten Kampf hatte. Warum er den Arm hochriss, wusste er nicht genau. Er konnte sicher keinen Armbrustbolzen mit dem Dolch abwehren.

Ein Kreischen von Metall auf Metall, ein Schlag in seinem Handgelenk, der ihn mehr überraschte als weh tat und ein neben ihm in die Wand schlagender Bolzen belehrten ihn eines Besseren.

Er stand selbst einen Moment fassungslos da. Seit wann konnte er Armbrustbolzen abwehren?

„Verdammt!“, brüllte Wulgen. Mit fließenden Bewegungen zogen er und Mitshar gleichzeitig ihre Armbrüste. Maurien lud hastig nach.

Beide schossen. Mitshars Schuss traf Maurien in die Stirn, Wulgens Schuss hätte Mitshar getroffen – hätte er den Bolzen nicht wieder mit dem Dolch abgewehrt. So viel Glück auf einmal! Eigentlich war das unmöglich. Er musste den Dolch unter einem Winkel getroffen haben, dass der Bolzen abgeleitet wurde!

„Nein!“, brüllte Wulgen. Sein Aufschrei durchriss die bisher herrschende Stille. Erst jetzt fiel Mitshar auf, dass die drei sich bisher in einer leiseren, gut verständlichen Flüstersprache unterhalten hatten. „Du hast meine Tochter getötet!“

Mitshars Blick fiel auf seine Schülerin. „Das stimmt“, sagte er. „Aber keine Angst, du musst nicht lange leiden.“

Er sprang vor. Wulgen hatte selbst seinen Dolch ergriffen und trat ihm entgegen. Die Kunst des Meisterdiebes mit dem Dolch galt als legendär. Doch er schaffte es nicht einmal, einen einzelnen Angriff von Mitshar zu parieren. Dieser stieß mit dem Dolch einfach durch seine Deckung, mitten in sein Herz. Dann trat er zurück und blickte, beinahe selbst entsetzt, abwechselnd auf den Dolch in seiner Hand und auf Wulgen.

„Ich wusste nicht, dass ich das kann.“

Es klang beinahe wie eine Entschuldigung.

 

*

 

Eigentlich genoss sie den Schlaf. Dann dachte sie nicht über die Dinge nach, die sie quälten.

Es sei denn, der Traum kam wieder. Wie in dieser Nacht.

Limen stand inmitten der anderen drei. Sie wusste, dass sie diese drei gekannt hatte, aber sie hatte keine Ahnung mehr, wer sie waren.

Sie erkannte den Dieb, der zupackte, die Kugel am Ende des Stabes umschloss. Wie sich seine Gesichtszüge verzogen und er laut schrie.

Und dann wusste sie nichts mehr. Und wachte auf.

Sie lag in ihrem Bett in der Garnison von Reshab. Sie wusste nicht, ob sie sich zurück in ihren Traum wünschen sollte.

Sie hatte keine Idee, wie die anderen ausgesehen hatten. Nur vage erinnerte sie sich an die Gesichtszüge des Diebes. Er hätte das nicht tun sollen, nicht zugreifen. Aber warum nicht?

Limen schüttelte sich. Sie setzte sich auf, versuchte, einen Blick aus dem Fenster zu erhaschen. Die Sonne ging auf. Es waren sicher noch zwei Stunden bis zum Morgenappell.

Die anderen beiden Frauen in ihrer Stube schliefen tief und fest. Ranga schnarchte mal wieder, Brolte war leise, wie immer.

Und sicher gab es interessantere Anblicke als die schmucklose Stube. Die Astlöcher in den Wänden hatte sie schon gezählt.

Sie sollte eigentlich wieder einschlafen. Der Traum ließ sie immer ausgelaugt zurück, aber das durfte sie nicht daran hindern, morgen ihre Pflicht zu tun. Auch, wenn es gar keine richtigen Aufgaben gab, nur die Pflicht.

Seit einem halben Jahr tat sie nichts anderes. Pflicht, Pflicht, Pflicht. Sie erschien pünktlich, sie machte jeden Drill mit, so, dass der Weibel sie regelmäßig lobte. Sie traute sich zu, mit Schwert, Säbel, Stock, Dolch oder Hellebarde fast jeden anderen, beliebig bewaffneten Gegner zu besiegen. Die Übungskämpfe bestärkten sie darin.

Dennoch kam sie nicht weiter. Dennoch akzeptierten die anderen sie nicht. Dabei sah sie nicht anders aus als die anderen. Sie war mittelgroß – etwas größer als die meisten weiblichen Soldaten, kleiner als die meisten männlichen. Braune Haare, leicht kantiges Gesicht, nichts, was sie sofort zur Außenseiterin machte.

Es war auch nicht ihr Aussehen. Erst hatten sie sie als Außenseiterin gesehen, weil sie aus der Hauptstadt hierher versetzt worden war. Dann wurden aus Jornas Bruuhl Gerüchte gestreut, was mit ihr geschehen war. Das vergrößerte den Argwohn aller, die mit ihr zu tun hatten. Sie kannte die Gerüchte nicht einmal genau. Sie wusste ja auch nicht, ob sie stimmten. Und niemand fragte sie direkt. Also kämpfte sie härter, verbissener – wo die anderen schon längst zum Essen gingen, legte sie noch eine Übungsrunde ein. Und umso mehr entfremdete sie sich von den anderen, wenn das irgendwie noch möglich war. Die anderen taten ihren Dienst mit ihr, sprachen dienstlich mit ihr. Aber keine der anderen beiden Frauen hatte ihr gegenüber auch nur angedeutet, welchen Mann sie interessant fand, welcher Vorgesetzte sie gerade ärgerte, wer ihre Familie war. All das, worüber sie sie früher immer mit den Frauen auf ihrer Stube gequatscht hatte. Auch wenn sie das gar nicht wollte.

Manchmal wünschte Limen sich, dass das Reich endlich in den Krieg ziehen würde. Sie hatte Geschichten von Kriegen gehört, von früher, als die Truppen des Reiches noch gegen andere Reiche gekämpft hatten. „Für den König, für die Grafen, für das Volk“, hatte es geheißen. Aber zu ihren Lebzeiten hatte es keine Kriege gegeben, und die Soldaten des Reiches waren hauptsächlich dazu da, neben den städtischen Gardisten für Ordnung zu sorgen. Da diese aber meist gut allein zurechtkamen, gab es nur den Drill für den Ernstfall.

So würde sie auch nicht aus Reshab wegkommen. Hier gab es nur ein paar Höfe und die Garnison. Nichts zu tun, nicht einmal ein Wirtshaus, in dem man ordentliches Bier bekam. In der Schankstube der Garnison redete auch niemand mit ihr. Außer dem Wirt, der ihr Bier verkaufte – mehr aber auch nicht..

Brolte hatte kürzlich weinend in ihrem Bett gelegen. Sie hatte sie gefragt, was los sei, und Brolte hatte schlicht nicht geantwortet. Kaum war Ranga erschienen, war sie mit ihr weggegangen.

Früher hatte sie das belanglose Geschwätz auf der Stube gehasst. Jetzt wäre sie froh gewesen, jemandem zum Tratschen zu haben.

Lohnte es sich noch, zu schlafen? Sie war sich nicht sicher.

Ein leises Geräusch aus dem Nebenzimmer holte sie aus ihren Gedanken. Dort lag die Speisekammer. Machte sich da jemand zu schaffen? Die Köche würden sicher erst in einer Stunde loslegen.

Nun ja. Pflicht war Pflicht, und wenn etwas sie ablenken konnte, dann das hier. Zumindest nachsehen musste sie.

Sie stand auf, zog sich an und warf ihren Wappenrock über. Ihr Schwert? Nein, das war sicher übertrieben. Vermutlich naschte da jemand, da musste man nicht schwer bewaffnet ankommen.

Allerdings sollte sie wohl besser niemanden vorwarnen. Und vielleicht trafen sich ja auch gerade zwei Soldaten da zu einem nächtlichen Stelldichein. Dann wollte sie nicht weiter stören. Auf den Stuben konnten die anderen ja davon wach werden.

Sie schlich sich aus dem Raum. Die Tür quietschte. Vorsichtig, keinen Laut. Die Tür nebenan stand einen Spalt breit offen. Die Küche hatte eine direkte Verbindung in die Speisekammer. Die Köche würden also gar nicht durch diese Tür kommen. Und angeliefert hatte um diese Zeit mit Sicherheit auch niemand etwas.

Sie hörte ein Schmatzen. Nein, da gab es kein Stelldichein. Kein Grund für mehr Lautlosigkeit.

Sie stieß die Tür auf und starrte in die aufgerissenen Augen von zwei Männern. Sie erkannte die beiden sofort. Morleb und Zarpf. Beide waren Leute, die sie nicht ignorierten, sondern ihr von Anfang an klargemacht hatten, dass sie sie nicht leiden konnten. Ferner war Zarpf ein Adliger, der zweite Sohn eines Grafen, und er hielt sich ohnehin für etwas Besseres. Natürlich würde er ohnehin Offizier werden, allerdings hatte sein Vater verfügt, dass er hier erst ein Jahr als normaler Soldat dienen musste. Das war ungewöhnlich, aber er schien seinen Sprössling zu kennen. Morleb war sein Speichellecker. Und natürlich war Soldat Zarpf immer ein wenig wichtiger als die anderen Soldaten, auch bei den Ausbildern.

„Ah, wen haben wir denn da. Soldat Limen.“ Unter Zarpfs Schnäuzer zeigte sich ein breites Grinsen. „Da waren wir wohl doch nicht so ruhig, wie wir gedacht hätten, nicht wahr, Morleb?“

Der Dicke neben ihm stopfte sich gerade ein Stück Kuchen in den Mund. „Offenbar nicht.“ Es war kaum zu verstehen.

„Nun gut. Soldat Limen, ich schlage vor, du gehst jetzt und hier zurück in dein Bett und vergisst ganz schnell, dass du uns hier gesehen hast.“ Offenbar sah der Mann eine Frau in einem schlecht sitzenden Wappenrock nicht als Gefahr an.

Limen schaute Zarpf mit schiefem Kopf an und tat, als dächte sie nach. Die Entscheidung fiel ihr aber nicht schwer. Bei anderen hätte sie vielleicht wirklich ein Auge zugedrückt, aber bei Zarpf?

Verdammt. Sie war Weibel gewesen. Solche Idioten wie diese hätte sie einfach zusammengestaucht, Grafensöhnchen hin oder her, und dann eingebuchtet.

Nicht mit ihr. Nicht mit Limen.

Sie schüttelte den Kopf. „Das wäre falsch. Eure Diebstähle in den letzten Wochen haben schon Verdacht erregt. Der Kommandant hat klargemacht, dass die Konsequenz ist, dass alle weniger zu essen bekommen, wenn sie nicht aufhören. Ich biete euch an, die gestohlenen Dinge zurückzulegen, zusammen mit einer großzügigen Spende als Bezahlung. Dann sehe ich davon ab, die Wachhabenden zu informieren.“

Zarpf starrte sie an, als habe sie ihn gerade aufgefordert, sich auszuziehen. Morleb lachte und biss noch einmal in den Kuchen.

„Um das klarzumachen, Soldat Limen“, erklärte Zarpf. „Du siehst dich in einer delikaten Situation. Du stehst zwei voll ausgebildeten Mitgliedern der Reichstruppen gegenüber. Wir beide sind, wie du vermutlich übersehen hast, bewaffnet. Ich sehe, dass du das nicht bist. Ich kann gerne erklären, dass wir dich hier getroffen haben und du dich gewehrt hast. Wir mussten dich dann leider töten.“

Limen ärgerte sich, dass sie die Geräusche auf die leichte Schulter genommen hatte. Aber es passte zu Zarpf. Der würde tatsächlich nicht zögern, sie zu töten, um einen Mundraub zu verdecken.

Aber sie war die Flucht nach vorne angetreten, dann musste sie nun den Weg auch zu Ende gehen.

„Nein. Du wirst mich nicht töten. Ich werde Meldung machen. Und wenn du meinst, dass die Tatsache, dass dein Vater ein Graf ist, irgendetwas daran ändert, irrst du dich.“

Morleb zuckte, den Mund voller Kuchen, die Achseln. Zarpf zog sein Schwert.

„Wie du willst.“

Er war schnell, das musste sie zugeben. Mit einem einzigen Ausfallschritt kam er näher.

Sie wich zurück. Neben der Tür hatte sie eine schwere Kelle gesehen, mit der man auch aus den großen Töpfen noch Suppe vom Boden bekam.

Beim zweiten Ausweichen achtete sie darauf, in Reichweite der Kelle zu gelangen, und packte sie. Sie riss sie mit der linken Hand vom Haken und parierte damit instinktiv den nächsten Schwertstreich von Zarpf.

„Ah. Die Waffen einer Frau“, prustete Morleb von hinten.

Limen nahm die Kelle in die rechte Hand und schlug zu. Der Schlag wurde von Zarpfs Schwert geblockt, wie sie vorausgesehen hatte. Ihr Gegner nutzte die Gelegenheit, um das Schwert in Richtung ihres Halses zu stoßen.

Aber das hatte sie ebenfalls vorausgeahnt. Sie drehte die Kelle mit einer blitzartigen Bewegung zweimal um die Klinge herum. Zapf versuchte, das Schwert festzuhalten, geriet durch den Vorstoß leicht aus dem Gleichgewicht und stolperte. Mit einem Klatschen flog er zu Boden.

Sie zögerte keinen Augenblick, holte aus und knallte dem überraschten Zarpf die Kelle an die Schläfe. Er blieb reglos liegen.

Morleb hatte den Kuchen weggeworfen und seinerseits sein Schwert gezogen. Doch sie war bei ihm, bevor er auch nur die Waffe gehoben hatte und verpasste ihm mit der Rückhand ebenfalls einen Schläfentreffer. Einer rechts, einer links. Aus derselben Bewegung heraus.

Es waren nur zwei kurze Schwinger gewesen, bis die beiden Essensdiebe am Boden lagen.

Verdammt. Was sollte sie nun machen? Die Worte des Sohns eines Grafen hatten sicher mehr Gewicht als die ihren. Sie war eine Degradierte, die gerade noch das Glück hatte, überhaupt bei der Armee bleiben zu dürfen. War das nun vorbei?

Aber Pflichterfüllung hatte Vorrang. Wenn sie jemals akzeptiert werden wollte, musste sie den Vorfall melden. Sie würde sich nichts zuschulden kommen lassen.

Unten in der Wachstube würde die Wache sein. Solche Vorfälle mussten dort gemeldet werden.

Sie ging eiligen Schrittes die Treppe hinunter, bis zur Wachstube neben dem Eingang.

Ein älterer Weibel und ein junger Soldat taten hier Dienst und drehten sich erstaunt zu Limen um.

„Alles klar so in aller Frühe, Soldat?“

„Herr Weibel. Melde, dass zwei Diebe in der Speisekammer von mir gestellt wurden, die Herren Zarpf und Morleb. Die beiden drohten mit tödlicher Gewalt und zogen ihre Schwerter. Habe beide kampfunfähig gemacht und vor Ort belassen und erwarte nun eure Anweisungen.“

Der Weibel starrte sie fassungslos an.

 

*

 

„Ja, Er ist zurückgekehrt.“

Shijin stand an der Rückwand der Höhle. Ihre Arme hatte sie ausgebreitet, ihr kahler Kopf glänzte im Licht der Sonne, die durch die Kristalle hineinfiel. An diesem Ort konnte man die großen Drei spüren, hatten die beiden Marin erklärt. Doch das war lange, lange nicht geschehen.

„Er ist wirklich zurück?“ Marin konnte es nicht fassen.

Shijin nickte. Sie schien es nicht ganz bei sich selbst zu sein. Sie blickte empor und schüttelte sich in Ekstase.

Einer der großen Drei war zurückgekehrt!

Und Er würde seine Diener wiederfinden. Freiwillige, die ihm bereitwillig dienen würden.

Dann würde Er sie erlösen, und die Welt würde eine Bessere werden.

„Ich werde Ihn finden, Shijin. Ich werde Ihm gegenübertreten und Ihm erklären, dass ich einer derer bin, die ihr Leben darauf ausrichten, Ihm zu dienen.“

Shijin nickte ihm zu. „Das ist gut. Nichts anderes haben wir erwartet.“

Brendal hatte die ganze Zeit geschwiegen und stellte sich nun vor ihn. Er war immer noch einen Kopf größer als Marin. Er würde wohl nie so groß werden wie der, der ihn aufgezogen hatte.

Er packte ihn an beiden Schultern. „Geh zu Ihm, und zeige Ihm, dass es uns immer noch gibt. Dass wir immer noch da sind, dass wir Ihm immer noch gerne dienen werden.“

Marin nickte.

Dann drehte er sich um und verließ die Höhle.

Er wusste, wo er hinmusste. Er spürte die Richtung so sicher, als sähe er sie mit seinen eigenen Augen.